Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2011; 55(1): 35-37
DOI: 10.1055/s-0030-1257597
Praxis
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Verifikationen, Falsifikationen, klinische Symptome

Klaus Holzapfel
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Publication Date:
31 March 2011 (online)

Weitere klinische Beobachtungen mit Cocculus indicus

Vor gut 3 Jahren habe ich in unserer Zeitschrift 2 Kasuistiken zu Cocculus indicus [Abb. 1] präsentiert [6]: Beide Patienten bekamen eine Übelkeit, wenn sie versuchten, die Zunge herauszustrecken. Ich hatte damals die Hypothese ausgesprochen, dass es sich hier um eine charakteristische Modalität von Cocculus handeln könnte, und dass wir weitere klinische Beobachtungen benötigen, um diese Hypothese zu stützen. Ich hatte weiterhin die homöopathischen Praktiker dazu angehalten, auf diese Modalität auch in anderen klinischen Zusammenhängen zu achten, um so gegebenenfalls Hinweise auf einen Geniuscharakter dieser Symptomenkomponente zu erhalten [6: 123]. Mein Artikel wurde ergänzt um Erörterungen von Klaus Scheimann-Burkhardt [10].

Abb. 1: Längsschnitt durch eine getrocknete Cocculus-Frucht. © H. Zell/WikiCommons

Während eines 8-tägigen Aufenthalts im August 2010 im indischen Staat Gujarat, den ich als Vertreter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch-Stiftung in Stuttgart zur Eröffnung einer Wanderausstellung zur Geschichte der Homöopathie an 2 verschiedenen Orten – Ahmedabad und Vallabh Vidyanagar – wahrnahm, stellte ich beide Fälle im Rahmen von Vorträgen über die Arbeitsweise mit dem Therapeutischen Taschenbuch von Bönninghausen [TB] vor: der Homoeopathic Society in Ahmedabad, den Dozenten und Studenten des Baroda Homoeopathic College in Vadodara und den Dozenten und Studenten des Anand Homoeopathic College an der Sardar Patel University in Vallabh Vidyanagar.

Auch hier bat ich die homöopathische Kollegenschaft um weitere klinische Beobachtungen zu Cocculus.

Kasusitik

Am 6. September wurde mir von einer homöopathischen Kollegin aus Vallabh Vidyanagar folgende Kasuistik geschickt:[1]

Am 24. August 2010 stellt sich eine 48-jährige Patientin, die wegen rheumatischer Beschwerden und Otitis media Silicea in unregelmäßigen Gaben erhalten hatte, mit akut aufgetretenen Beschwerden vor:

Seit 12 Stunden,

  • extreme Schwäche

  • Sorgen um Andere, sogar ihr Unbekannte

  • Schwindel beim Aufstehen vom Bett

  • erschöpfender, trockener Husten, ein Hustenanfall löst einen weiteren Anfall aus

  • < in kaltem Wind, kühler Zugluft, durch kalte Getränke und Speisen

  • < beim Öffnen des Mundes während des Hustens

  • sie hustet nur mit zurückgezogener Zunge, kann nicht husten, wenn die Zunge aus dem Mund herausgestreckt ist, das Herausstrecken scheint den Zustand zu verschlimmern.

Auf genaueres Befragen, gibt die Patientin an, dass sie sich unwohl fühle, wenn sie während des Hustens die Zunge herausstrecke.

Mittelgabe : Cocculus 30, 3-mal tgl.

Das Fieber war nach 6 Stunden gefallen, der Husten ging innerhalb der nächsten 6–8 Tage zurück, und auch das Symptom des Unwohlseins beim Herausstrecken der Zunge verschwand, zusammen mit allen übrigen Symptomen, vollständig. Nach mittlerweile über 4 Monaten kein Rückfall.

Diskussion

In diesem Fall liegt wiederum eine Verschlimmerung durch Herausstrecken der Zunge vor, diesmal im Zusammenhang mit Husten, obwohl der Husten hierduch nicht direkt verstärkt wird. Die Patientin fühlt sich unwohl, es scheint sich also eher um ein allgemeines Unwohlsein zu handeln, das durch Husten und simultanes Zunge-Herausstrecken verschlimmert wird.

Dies mag ein weiterer Hinweis darauf sein, dass das Herausstrecken der Zunge eine charakteristische oder sogar Genius-Modalität dieser Arznei sein könnte.

Ob es sich hierbei um Veränderungen der Anatomie der Mundhöhle und des Rachens handelt, oder um zentralnervöse Vorgänge, wie von Scheimann-Burckhardt diskutiert [10: 34], bleibt dahingestellt.

Dass es sich um Veränderungen im Mundrachenraum handeln kann, wird durch folgendes Symptom unterstützt:

  • Der Husten wird durch Öffnen des Mundes verschlimmert.

Diese Modalität wurde in der AMP von Hahnemann einmal, und wiederum in anderem Zusammenhang, beobachtet:

  • Klammartiger Schmerz in den Kaumuskeln, schon vor sich, doch durch Öffnen der Kinnbacken noch vermehrt. [RA I 164, Nr. 57]

Schließlich gibt es noch 2 Prüfungssymptome, die eine Verschlimmerung durch Gähnen aufweisen:

  • Beim Bewegen des Halse und beim Gähnen, Steifigkeits-Schmerz der Halsmuskeln. [RA I 165, Nr. 73]

  • Gewaltsames Gähnen mit einem Knacken im inneren Ohre. [RA I 186, Nr. 460]

Gähnen ist aber nicht nur eine Art des Mundöffnens, sondern auch eine Art der Weitung des Lumens des Rachens. Auf Lumenveränderungen im Rachen hat Scheimann-Burckhardt bereits hingewiesen [10: 34].

Entsprechend der Häufigkeit des Vorkommens der Modalität in der AMP, hat Bönninghausen sowohl in seinem Systematisch-Alphabetischen Repertorium der Nicht-Antipsorischen Arzneien [SRN], als auch in seinem TB Cocculus in der Rubrik „< bei Mundöffnen” im 1. Grad [SRN 284, TB 335] und in der Rubrik „< beim Gähnen” im zweiten Grad [SRN 280, TB 316] aufgenommen.

Somit haben wir mit dieser Husten-Modalität des Mundöffnens der indischen Patientin ein weiteres Beispiel für die Möglichkeit des Extrahierens einer Modalität aus dem Prüfungszusammenhang und der Kombination mit einem anderen Symptom.

Und an dieser Stelle möchte ich wieder die homöopathischen Praktiker anhalten, auch auf diese Symptomenkomponente zu achten und sie gegebenenfalls zu verifizieren. So kann die Materia medica von Cocculus durch klinische Beobachtungen in ihren Charakteristika erweitert werden.

Darüberhinaus deutet sich in diesem Fall eine weitere klinische Bestätigung von Anteilen eines Prüfungssymptoms an:

  • die Patientin litt an einem erschöpfenden, trockenen Husten, ein Hustenanfall löst einen weiteren aus.

Das Prüfungssymptom lautet bei Hahnemann:

  • Sehr anstrengender Husten wegen einer Beklemmung der Brust, die jedes Mal erst beim Husten entstand. [RA I174, Nr. 249]

Dass dieses Symptom etwas missverständlich ausgedrückt wurde und dass Hering es in seinen Guiding Symptoms offensichtlich fehlgedeutet hat, habe ich bereits an anderer Stelle angedeutet [7: 17]. Bei Hering heißt es:

  • Husten <, wenn man der Neigung zu husten nachgibt. [GS IV 271].

Im o. a. Fall würde jedenfalls die Hering'sche Deutung klinisch verifiziert werden, während bei Hering selbst noch kein Verifikationsbalken vorangestellt ist. Ebenfalls würde Cocculus in der Kent-Rubrik „Husten, Husten agg.” (im ersten Grad) verifiziert [K 785].

Damit wir aber zu echten Verifikationen kommen, brauchen wir weitere klinische Beobachtungen, denen wir eindeutig entnehmen können, dass das entsprechende Symptom durch die Arznei behoben wurde [3], [9].

Daher noch einmal meine Bitte an die Leser unserer Zeitschrift:

Achten Sie bitte auf jegliche Beschwerden mit den Modalitäten:

  • Zunge-Herausstrecken, <

  • Mund-Öffnen, <

  • Gähnen, < -

und, als Konsequenz:

  • Zähneputzen, <

  • Zahnprothese-Tragen bzw. -Wechsel, <

  • zahnärztliche Eingriffe in der Mundhöhle, <

v. a. im Zusammenhang mit der Arznei Cocculus indicus, aber auch der Arznei Coccus cacti, wie von Scheimann-Burckhardt vorgeschlagen [10: 35–36], und steuern Sie Ihre klinischen Beobachtungen der Rubrik „Verifikationen” in unserer Zeitschrift bei.

Literatur

  • 01 Bönninghausen C M. Systematisch-Alphabetisches Repertorium der Homöopathischen Arzneien. Zweiter Theil enthaltend die (sogenannten) nicht-antipsorischen Arzneien. Münster: Coppenrath; 1835. [SRN]
  • 02 Bönninghausen C M. Therapeutisches Taschenbuch für homöopathische Ärzte, zum Gebrauche am Krankenbette und beim Studium der reinen Arzneimittellehre. Nachdr. Hamburg: Lieth; o. J. (1846, Münster) [TB]
  • 03 Genneper T. Verifikationen, Falsifikationen, klinische Symptome.  ZKH. 2009;  53 28-32
  • 04 Hahnemann S. Reine Arzneimittellehre. Erster Theil. Nachdr. Heidelberg: Haug; 1991. (1830, Dresden und Leipzig). [RA]
  • 05 Hering C. The Guiding Symptoms of our Materia Medica. Vol. 4. Nachdr. Delhi: Jain; 1988. [GS IV]
  • 06 Holzapfel K. Ein Charakteristikum von Cocculus indicus?.  ZKH. 2007;  51 120-124
  • 07 Holzapfel K. Untersuchung einer Rubrik im Repertorium von Kent.  AHZ. 2010;  255 17-19
  • 08 Kent J T. Repertory of the Homoeopathic Materia Medica. 6th American Edition. Nachdr. Delhi: Jain; 1988. [K]
  • 09 Klinkenberg C R. Sieben Kriterien für Verifikationen.  ZKH. 2009;  53 16-21
  • 10 Scheiman-Burckhardt K. Cocculus und die Spurensuche in der Homöopathie.  ZKH. 2008;  52 32-39

Anmerkungen

01 Frau Ankita Jagirdar, Vallabh Vidyanagar, Gujarat, Indien, sei an dieser Stelle vielmals für die Überlassung ihrer Kasuistik gedankt.

Dr. med. Klaus Holzapfel

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