Psychiatr Prax 2010; 37(5): 257-259
DOI: 10.1055/s-0030-1262368
Leselust und Leselast

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Zahlen und Wörter

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Publikationsdatum:
07. Juli 2010 (online)

 

Fragt man Kollegen und Kolleginnen, wie sie sich im Publikationsdschungel orientieren, nennt die Antwort meistens nicht eine oder zwei Quellen, sondern ein Sammelsurium von Zeitschriften, Internetadressen, Buchhandlungen und Referenzpersonen. Neben der gezielten, systematischen Suche nach Literatur zu einem bestimmten Thema ist die assoziative Suche nicht hinfällig geworden. Bisher hat die Psychiatrische Praxis zusammen mit der Vorschau aufs nächste Heft und auf Kongresse Literaturhinweise zu ausgewählten neuen Büchern zusammengestellt. Mit diesem Heft werden wir die Hinweise verknüpfen mit Anregungen zum Lesen. Damit wollen wir nicht nur Lesepflichten bedienen, sondern auch Ihre Leselust unterstützen. Im Huber Verlag ist soeben ein kleines, ansprechendes, in kurzen Kapiteln und mit fröhlichen Zeichnungen der Autorin gestaltetes Bändchen erschienen das sich der Notwendigkeit widmet, Vernunft und Neigung zusammenzubringen, sowohl für die kleinen Alltags- als auch die großen Lebensentscheidungen unter dem Titel "Machen Sie doch, was Sie wollen!". Lassen Sie sich mitnehmen vom Strudelwurm, der in 200 Millisekunden weiß, was ihm behagt, lange ehe der Verstand weiß, warum, und ohne den – oder auch mit ihm im Würgegriff – weder Lesen noch Leben auf Dauer gelingen will. Auch wenn nicht alle propagierten Lösungswege für alle Lesenden geeignet erscheinen, erkennt man in Windeseile den eigenen Strudelwurm in den Beispielen wieder, lässt sich mit Vergnügen in das Selbstmanagement mit dem Wurm einführen, ins Verhandeln mit dem Wurm, lässt sich vor der Zwangsbeglückung warnen, lernt Abwarten und Wurmtee trinken, die Mathematik des Wurms kennen, die Möglichkeit ihn in die Wurmschule zu schicken, ein Wurmlog zu führen und gerade deshalb nicht nur vernünftiger, sondern auch zufriedener zu werden.

Storch M. Machen Sie doch, was Sie wollen! Wie ein Strudelwurm den Weg zu Zufriedenheit und Freiheit zeigt. Bern: Huber Verlag 2010, 135 S., € 17,95

Zahlen sind exakter als Wörter, heißt es. Wörter sind vieldeutig. Ihre Aussage ist kontextabhängig. Und selbst in diesem bestimmten Kontext können sie mehrdeutig bleiben. Das muss kein Nachteil sein, vor allem wenn man, wie in den hermeneutischen Verfahren, eine Interpretation als "bis auf weiteres" gültig anerkennt, zu der mit neuen Erkenntnissen andere Bedeutungen hinzutreten können. Zahlen sieht man ihren Entstehungshintergrund nicht an. Man muss ihn erfragen, erforschen, ihm nachspüren, auf die Schliche kommen. Manchmal sind Zahlen exakt. Nicht selten erweisen sie sich als Schätzwerte. Zuweilen sind sie schlicht falsch. Erst die Verbindung von (empirischen) Zahlen und (interpretierten) Wörtern führt zu einer auch über längere Dauer verlässlichen Aussage. Das hat der Sonderforschungsbereich 186 "Statuspassagen und Lebensverlauf" zwischen 1988 und 2001 herausgearbeitet. "Die Verbindung quantitativer und qualitativer Daten und Methoden im Forschungsprozess" hat Christian Erzberger in Band XI der Forschungspublikationen dargelegt (Zahlen und Wörter. Weinheim DSV 1998). Die politische Betonung nutzbarer, insbesondere wirtschaftlich nutzbarer Forschungsergebnisse in den letzten Jahrzehnten hat zu einer Geringachtung von Sprach- und Kulturwissenschaften geführt, die weder an den Universitäten noch an der Medizin vorübergegangen ist. Interessanterweise zeigt sich inzwischen, dass grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse, beispielsweise aus der Neurobiologie ihre Bedeutung und ihr Gewicht dadurch erhalten, dass sprachliches und kulturelles Wissen zugezogen werden. Ein solches Beispiel ist das "lesende Gehirn" von Maryanna Wolf, das bereits bei den Lesarten (Editorial Heft 2/2010) Thema war: Gehirnreifung und Spracherwerb erhalten ihre Tiefe durch die Einführung in die Entwicklung unterschiedlicher Kulturen und deren Schriftsprache, die wesentlich davon geprägt wird, wie weit sich die jeweilige Sprache an Symbolen und Bedeutungen und wie weit an der Lautverschriftung orientiert.

Wolf M. Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 2009, 368 S., € 26,95

Auch wenn es ein vorsprachliches und ein nichtsprachliches Denken gibt, wird unser Denken weitgehend durch unsere Sprache geprägt und geleitet. Diese Erkenntnis ist auch und gerade angesichts der Dominanz des Englischen als Wissenschaftssprache weiterhin gültig. Wir denken "in Sprachen", "in Formen", philosophieren in Sprachen. Das Doppelheft 12 der "figurationen" 2009 hat sich das mehrsprachige Denken zu Thema gemacht. Barbara Cassin stellt ihr philosophisches Wörterbuch unübersetzbarer Begriffe vor. Franz Josef Czernin ist der Bedeutung von Worten in unterschiedlichen Textgattungen auf der Spur. Marco Baschera macht klar, dass "...die Vorstellung von Einzelsprachen ... somit nur komparatistisch in ständigem Kontakt mit anderen Sprachen erfahrbar (ist). Dies würde schließlich bedeuten, dass ich mich meiner ,eigenen Sprache nur insofern nähern kann, als ich mindestens zwei Sprachen spreche..."

Baschera M (Hrsg.). Mehrsprachiges Denken. figurationen. gender literatur kultur. No. 12/09. 10. Jahrgang. Köln: Böhlau 2009, 232 S., € 17,50

Die meisten Übersetzer würden Umberto Ecos Motto "Dasselbe mit anderen Wor.ten" (München Hanser 2003) in Zweifel ziehen und sich eher an Peter Utz orientieren, der beim Übersetzen ans andere Sagen, "autrement dit" oder "in other words" denkt (München Hanser 2007), an Klaus Reicherts "unendliche Aufgabe" (München Hanser 2003) oder Svetlana Geyers "Leben ist Übersetzen" (Zürich Ammann 2008). Im Frühjahr hat der Manesse Verlag eine Neuübersetzung Tanja Blixens "Jenseits von Afrika" herausgebracht, auf der Grundlage der vollständigen dänischen Fassung, wo hingegen der bisher im Deutschen bekannten Ausgabe eine gekürzte Fassung aus dem Englischen zugrunde lag. Gisela Perlet hat Blixens Sprache die Klarheit und Leuchtkraft des afrikanischen Lichts über den Ngong-Bergen zurückgegeben.

Blixen T. Jenseits von Afrika. Neuübersetzung aus dem Dänischen. Zürich: Manesse 2010. 413 S., € 22,95

Wer könnte das Ende der babylonischen Sprachverwirrung bedauern, wer könnte der Idee der Einheitssprache widersprechen wollen? Was aber geschieht mit dem Englischen als lingua franca? Mit seiner Verbreitung hat es sich längst verändert: Es gibt kein einheitliches Englisch, vielmehr ein britisches, amerikanisches, australisches, fremdsprachiges Englisch – ein "Hinglish", "Spanglish", eine neue Vielfalt der "World Englishes". Wenn der gepflegte Umgang mit dem eigenen kulturellen Erbe verloren geht, kommt einem auch die Wahrnehmung für die Unterschiede und Feinheiten anderer Sprachen und Kulturen abhanden. Eigene und fremde Sprachen schließen sich keineswegs aus (Baschera 2009). Auch die Verständigung über Disziplingrenzen hinweg hat etwas von einem Übersetzungsakt, für den Wörterbücher benötigt werden. Für Psychiatrie und Psychotherapie stehen hier nur ganz wenige zur Verfügung. Neben Peters "Wörterbuch Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie", das die meisten Stichwörter nur äußerst kurz kommentiert und dem "Wörterbuch der Psychotherapie" aus dem Springer Verlag Wien, das sich auf Grundbegriffe der einzelnen psychotherapeutischen Schulen beschränkt, stellt der "Pschyrembel Psychiatrie, Klinische Psychologie, Psychotherapie" eine willkommene Ergänzung dar. Auf gut 900 Seiten findet man die wichtigsten Begriffe bis weit in die Nachbargebiete hinein. Damit steht auch gegenüber dem klassischen Pschyrembel, in dem die Psychiatrie bis jetzt viel zu kurz kam und manche Begriffe schlecht oder gar falsch abgehandelt worden waren, ein lang erwartetes Nachschlagewerk zur Verfügung.

Margraf J, Müller-Spahn FJ. Pschyrembel Psychiatrie, Klinische Psychologie, Psychotherapie. Berlin: Walter de Gruyter 2009, 914 S., € 37,34

Wie leicht erscheint gegenüber den sprachlichen Hürden die Überwindung von Zählen und Rechnen zu sein. "Abends verlässt das Vermögen die Firma", titelte im März ein Beitrag im Wirtschaftsteil der FAZ (Nr. 56, 8.3.2010, S. 14), eine beunruhigende Nachricht für Unternehmen wie Anwaltskanzleien, Forschungslabors oder Universitäten. Die "Herrschaft der Zahlen" ist weiter auf dem Vormarsch, selbst in Domänen die bislang als quantitativ unfassbar begriffen wurden, in soziale und subjektiv geprägte Gesellschaftsbereiche. Sie macht weder vor Personalplanung und -beurteilung noch vor immateriellen Werten wie Wissen und Kompetenzen von Geistesarbeitern halt.

Vormbusch U. Die Herrschaft der Zahlen. Zur Kalkulation des Sozialen in der kapitalistischen Moderne. Frankfurt: Campus 2010, 280 S., € 34,90

Was für Geistesarbeiter gut ist, muss für Exploranden sozialversicherungsrechtlicher Gutachten billig sein. Weder klassische psychiatrische Explorationen noch herkömmliche Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren werden als ausreichend erachtet verlässliche Aussagen zu machen. Für geklagte Beschwerden wird Validität eingefordert. Von Exploranden wird angenommen, dass sie üblicherweise die Wahrheit sagen. Tun sie das nicht, muss ihre Aussage eine Lüge sein. Der von Thomas Merten und Harry Dettenborn herausgegebene Band zur Diagnostik der Beschwerdevalidität schillert wie der Auftritt der Herausgeber anlässlich von Fortbildungsveranstaltungen zum Thema zwischen seriöser Entwicklung hilfreicher ergänzender Testverfahren zur herkömmlichen Begutachtung und entwertendem Schlagabtausch mit etablierten psychiatrischen und psychologischen Untersuchungsmethoden. Als unterstützender Zugang zur bestehenden multimodalen Diagnostik könnten ihre Bestrebungen eine wichtige Ergänzung sein, sobald die Tests für die Begutachtung ausreichend validiert sind. Als einzige Untersuchungsinstrumente sind sie unzulässig. Ihre Entwicklung erinnert ein wenig an die Einführung anderer Untersuchungsmethoden in der Forensik, deren Ergebnisse weit überschätzt wurden, kann doch jedes dieser Ergebnisse nicht mehr als ein Indiz sein, das im Gesamtkontext der Daten und Informationen gewürdigt werden muss.

Merten T, Dettenborn H (Hrsg.). Diagnostik der Beschwerdevalidität. Berlin: Deutscher Psychologen Verlag 2009, 314 S., € 23,80

Solange die Entwicklung von Beschwerdevalidierungsverfahren in der Gutachtendebatte als Knüppel eingesetzt wird, dienen die Verfahren vor allem politischen Interessen – und der Distanzierung vom Elend der Exploranden, ganz gleich welchen Ursprungs es sein mag. Franziska Lamott hat zusammen mit Kathrin Mörtl und Michael Buchholz für eine weitaus schwieriger zugängliche Klientel den umgekehrten Weg gewählt – die Aufzeichnung und detaillierte Analyse der Narrative von Sexualstraftätern. Die "Tat-Sachen" sind bereits 2008 erschienen.

Buchholz MB, Lamott F, Mörtl K. Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern. Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, 525 S., € 49,90

Im vergangenen Jahr haben Friedemann Pfäfflin und Horst Kächele Beiträge zu Behandlungsberichten und Therapiegeschichten nachgetragen. Was spricht dagegen diesen verstehenden Zugang auch für Antragsteller von Sozialversicherungsleistungen zu suchen?

Kächele H, Pfäfflin F (Hrsg.). Behandlungsberichte und Therapiegeschichten. Wie Therapeuten und Patienten über Psychotherapie schreiben. Gießen: Psychosozial-Verlag 2009, 240 S., € 36,90

Rehabilitative, reintegrative, absichernde und großzügige Sozialversicherungsleistungen haben auch eine Kehrseite: das wachsende Mitspracherecht, das die Gesellschaft, das Gesundheitswesen, die zuständigen Institutionen gegenüber Versicherten einfordern. Ihre Gesundheit, ihr Körper, ihre Psyche, ihre Lebenszeit gehört nicht mehr ihnen allein. Sie haben Rechenschaft abzulegen über alles, was sie getan oder unterlassen haben, um ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten oder zumindest soweit möglich wiederherzustellen. Julia Zehs "Corpus delicti" mag diese Tendenz überzeichnen, wenn die Mitglieder der Gesellschaft regelmäßig ihr Gewicht, Blutdruck-, Blutzuckerwerte abliefern und absolvierte Trainingseinheiten nachweisen müssen. Undenkbar ist dieses Szenario nicht.

Zeh J. Corpus delicti. Ein Prozess. Frankfurt: Schöffling Co. 2009. 264 S., € 19,99 oder btb 2010 € 9,95

Von der klassischen Medizin haben wir uns verabschiedet, hält uns Paul Unschuld den Spiegel vor. Medizin zum Markt zu erklären, die Patienten zu Kunden, Leistungserbringer und Pharmafirmen zu Lieferanten, Apotheker zu Zwischenhändlern, ist kein bloßer Definitionsakt und geht über ein Planspiel weit hinaus. Die Ware Gesundheit ist so sehr Puzzle-Teil unserer Konsumgesellschaft, dass es uns fast nicht mehr auffällt.

Unschuld PU. Ware Gesundheit. Das Ende der klassischen Medizin. München: C. H. Beck 2009, 124 S., € 9,95

Einen Kontrapunkt zu diesen Perspektiven setzt Nicole Witte mit ihrer Studie über Ärztinnen und Ärzten als Menschen. Aus lebensgeschichtlichen Interviews und Videoanalysen von ihren Konsultationen hat sie die Interaktionsmuster der Ärzte herausgearbeitet und sie in Bezug zu ihrem biografischen Entstehungshintergrund gestellt.

Witte N. Ärztliches Handeln im Praxisalltag. Eine interaktions- und biografieanalytische Studie. Frankfurt: Campus 2010, 420 S., € 45,

Trotz Facebook und anderen Trends zu persönlichen Enthüllungen hat die Ankündigung von Max Frischs Entwürfen zu einem dritten Tagebuch im Vorfeld für Kritik gesorgt: Man werde postum in Frischs Intimsphäre eindringen, ihn bloßstellen, zu viel Persönliches offen legen. Wie viel, was ist zu viel? Verständlich ist freilich der Wunsch, Frischs klare Stimme, seine knappe Sprache noch länger über Dinge zu hören, die andere aus der Ferne umkreisen. Die Lektüre lohnt nicht nur aus Nostalgie. Man kann mit ihr lernen älter zu werden, ohne Larmoyanz, aber auch ohne Scheuklappen, selbstkritisch, geistesgegenwärtig.

Frisch M. Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Frankfurt: Suhrkamp 2010, 213 S., € 17,80

Ulrike Hoffmann-Richter

eMail: Ulrike.hoffmannrichter@suva.ch