Gesundheitswesen 2010; 72(8/09): 445-446
DOI: 10.1055/s-0030-1262872
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wetten dass …?

M. Wildner
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Publication Date:
06 September 2010 (online)

Ascot ist ein Hort der Tradition. Seit dem 11. August 1711 wird an diesem Ort im Süden Englands britische Sportkultur gepflegt: Pferderennen, um genau zu sein. Seit der Gründerin Queen Anne unter Schirmherrschaft des Königshauses. Nicht immer ist die Feststellung des Siegers einfach: Ohne Jury und exakte Messungen ist eine Aussage unmöglich. In unserer Zeit belegt ein Zielfoto, vielleicht sogar in Vergrößerung, welches Pferd seine Nase signifikant vorne hatte. Dem Sieger – Pferd, Reiter und Rennstall – winken die Siegerprämie und allgemeine Popularität. Und schließlich – last but not least – beeinflussen Sieg oder Platz die Wettstatistiken künftiger Rennen.

Ist dies alles weit Weg von Gesundheit? Nur auf den ersten Blick. Analogien zwischen „Pferderennen” und Gesundheitsforschung lassen sich in vielfacher Weise ziehen. Setzen wir die Rennpferde mit möglichen Risikofaktoren, Genen oder neuen Medikamenten gleich, die Reiter mit den Forschern und das Rennen mit den „laufenden” wissenschaftlichen Studien. So wird manches deutlicher. Zum einen, dass ein faires Design, exakte Messungen und ein nachprüfbares Verfahren notwendig für ein allgemein akzeptables Ergebnis sind. „Fouls” wie z. B. Frühstarts, gedopte Rennpferde o. Ä. führen zu „verzerrten” und damit ungültigen Ergebnissen. In Studien werden solche Verzerrungen als „Bias” bezeichnet. Die Rennsieger werden öffentlich festgestellt, hier ist das Publikum von Ascot vergleichbar mit den Besuchern eines Fachkongresses oder den Lesern einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Klare Ergebnisse mit wiederholt großen Effekten („eine Pferdelänge Vorsprung”) sind unstrittig. Bei unklaren Ergebnissen („nur eine Nasenlänge”) werden vergrößerte Zielfotos betrachtet und genauer hinsichtlich bedeutsamer Unterschiede in der Position der Pferdenasen untersucht. Dies ist vergleichbar mit der Zusammenschau einzelner kleinerer Studien in Form von Metaanalysen, um durch größere Fallzahl eine klare Bewertung der „statistischen Signifikanz” zu ermöglichen. Auch für die Medienaufmerksamkeit gegenüber dem Sieger dürfte die Analogie gelten – neue Risikofaktoren finden sehr schnell ihren Weg in die allgemeine Presse. Ein Teil der Bekanntheit fällt auch auf den Reiter (Forscher) und den Rennstall (Forschungsinstitution). Um das Preisgeld nicht zu vergessen: nicht nur vom Veranstalter werden Prämien ausgesetzt (Forschungsmittel, Stipendien), sondern bisweilen auch hochdotierte Preise der Industrie (forschende Arzneimittelhersteller).

Soweit, so gut – gibt es einen besonderen Anlass, diese Analogien zu bemühen? Vielleicht sollte die Antwort so lauten: nicht einen Anlass, sondern eine Vielzahl. Im Konkreten handelt es sich um die Forschung zur gesundheitlichen Bedeutung von Genen, die als „Kandidaten” für eine Vielzahl möglicher Gesundheitszustände gehandelt werden. Und mehr noch: inzwischen werden vielfältig auch Studien ohne besondere Hypothesen zu einzelnen Kandidatengenen durchgeführt, sogenannte hypothesenfreie „genome-wide association studies” (GWAS). Bei GWAS werden die Gene des gesamten menschlichen Genoms hinsichtlich möglicher Assoziationen mit bestimmten Gesundheitsmerkmalen untersucht. Dabei führt die gleichzeitige „Massentestung” (massive testing) von Hunderttausenden (sic!) von Genen leicht zu einer Vielzahl von falsch positiven und bei statistischen Gegenmaßnahmen (Bonferroni-Korrektur) auch falsch negativen Ergebnissen [1]. Die gefundenen Risikoerhöhungen sind für Gene im Mittel kleiner als die Risiken, welche mit biologischen Merkmalen, psychosozialen Faktoren, Ernährung oder Verhalten verknüpft sind [2]. Die Analogie: wir haben es mit überfüllten Rennbahnen und vielen gleichzeitig laufenden Rennen zu tun, wobei der Ausgang des Rennens in der Regel knapp ist. Angesichts des Gedränges ist es schwer, den Überblick zu behalten und die Rennen mit der fachöffentlichen Aufmerksamkeit zu begleiten, welche aus Gründen der Qualitätssicherung gebotenen ist.

Eine Anpassung bzw. Erweiterung des „Regelwerks” scheint notwendig. In der statistischen und epidemiologischen Fachliteratur hat sich diesbezüglich eine Diskussion entfaltet, die in ihren Grundzügen auch Relevanz für Öffentliche Gesundheit und Versorgungsforschung hat – Stichworte sind „multiples Testen” und „Bayessche Statistik” [2] [3] [4].

„Bayes”? Dem in London geborenen Reverend Thomas Bayes (1702–1761), Mathematiker und presbyterianischer Geistlicher, wäre so viel Aufmerksamkeit sicherlich unangenehm gewesen – schlicht „unenglisch”. In der Tat wurde sein bahnbrechender Aufsatz „An Essay towards solving a problem in the doctrine of chances – Aufsatz zur Lösung eines Problems der Wahrscheinlichkeitstheorie” erst 2 Jahre nach seinem Tod der Royal Society von seinen Freunden zur Kenntnis gebracht [5]. Hatte er sich doch philosophisch vor allem mit dem Glück der Kreaturen beschäftigt und dem diesbezüglichen göttlichen Wohlwollen. Es wird vermutet, dass auch das nach ihm benannte Bayessche Theorem diesem Zweck diente – gleichsam eine göttliche Rechenhilfe, welche gelegentliche Misstritte mit unseren vorangehenden „a priori”-Verdiensten in einen vernünftigen Ausgleich bringen sollte.

Um den Bezug zu unserer Fragestellung zu verstehen: Herkömmliche „statistische Signifikanz” fokussiert auf den Ausgang eines aktuellen Rennens (einer Studie). Damit lässt sich der Sieger des aktuellen Rennens feststellen, die Güte eines Rennpferdes jedoch nur bedingt – gerade in überfüllten Rennbahnen können einmalige und nicht wiederholbare Zufallskonstellationen eine Rolle spielen. Bayessche Statistik berücksichtigt dem gegenüber die bereits „a priori” vorliegenden Erkenntnisse, also in unserem Bild die Ergebnisse der vorangegangenen Rennen eines Pferdes. Ist es ein erster Sieg? Dann wird man zunächst weiter beobachten müssen. Ist es ein wiederholter Sieg? Dann wäre interessant, in welcher Zeit gewonnen wurde und ob mit einer Pferdelänge oder nur mit einer Nasenlänge Vorsprung. Relevant ist dies alles für die begleitenden Pferdewetten: die Souveränität des Sieges bestimmt das Wettverhältnis beim nächsten Rennen mit, ob also in Zukunft z. B. 70 Personen auf Sieg setzen und 30 dagegen, oder nur 50 auf Sieg und 50 dagegen. Solches Rechnen mit Wettchancen (engl. „Odds”) ist auf dem Europäischen Kontinent nicht sehr geläufig. Wettchancen sind leichter zu erfassen, wenn sie in Prozentwerte umgerechnet werden: Odds von 7:3 entsprechen 70% Gewinnchance, Odds von 1:1 entsprechen 50% Gewinnchance. Diese Veränderung der Chancen durch ein Studienergebnis – in unserem Fall von 1:1 zu 7:3 – wird in der Bayesschen Statistik über den „Bayes-Faktor” gemessen. Die Auswirkung eines einzelnen Sieges (inhaltliches Studienergebnis) und die Höhe des Sieges („p(robability)-Wert”) ist dabei relativ zum vorhergehenden Wissen zu sehen. Um es in die Sprache des Fußballs zu übersetzen: die Meisterschaft wird vom Tabellenplatz am Ende der Saison bestimmt, nicht von einem beliebigen Zwischenstand und schon gar nicht nach dem ersten Spieltag. Der Tabellenplatz am vorletzten Spieltag hat da schon eher Relevanz.

Um noch einmal zu den GWAS und den Hoffnungen der genetischen Risikoforschung zurückzukommen: Solchen und anderen Herausforderungen einer „Modernen Medizin” mit ihren Chancen einer individualisierten Prävention und Epidemiologie stellt sich der gemeinsame Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) und der European Union of Medicine in Assurance and Social Security (EUMASS) in Berlin 2010. Wir freuen uns, die Abstracts dieser Veranstaltung in der vorliegenden Ausgabe abdrucken und unseren Lesern zur Verfügung stellen zu können. Gleichzeitig freuen wir uns, unsere Zeitschrift mit Ihren verschiedenen Rubriken und Originalien den Kongressbesuchern näherbringen zu können: Sie finden Beiträge zu Bildungsniveau und Zugang zu Gesundheitsleistungen, zu Multimorbidität und Lebensqualität, zu klimabedingten Gesundheitsrisiken, zum Hausarzt als Lotsen, zu Fallpauschalen und anderem mehr.

Eine Schlussfolgerung für die Praxis aus unserem vorangegangenen statistischen Räsonnieren? Sicher ist man gut beraten, einer „Casino”-Mentalität im Bereich genetischer Risikofaktorsuche und „Gesundheitsvorhersage” vorzubeugen. Dies gilt für den einzelnen interessierten Bürger, der sich und der Solidargemeinschaft bei falsch positiven Ergebnissen erhebliche Folgekosten auferlegt. Es gilt ebenso für ein evtl. genetisches Risikoscreening auf Veranlassung durch Versicherungen oder durch den Arbeitgeber. Man spricht hier von „prädiktiver” Medizin, in Abgrenzung zur medizinischen Prognose – Prognosen beziehen sich dem gegenüber auf bereits vorhandene Krankheiten. Und es gilt mittel- und langfristig auch für die forschenden Arzneimittelhersteller, die jenseits der kurzfristigen Aufgeregtheit um einen neuen Test nachhaltig agieren und bestehen wollen. Wetten wir also nicht zuviel und zu früh. Dass dies zumindest in Einzelfällen trotzdem der Fall sein wird: Wetten dass …?

Literatur

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleißheim

Email: Manfred.Wildner@lgl.bayern.de

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