PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(1): 82-83
DOI: 10.1055/s-0030-1266045
Résumé
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychokardiologie geht uns alle an!

Volker  Köllner, Christian  Albus
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 March 2011 (online)

Etwa 70 Seiten Psychokardiologie liegen nun hinter Ihnen! Wir hoffen, für Sie war die Lektüre genauso spannend, wie es für uns als Herausgeber war, dieses Heft gemeinsam mit den zahlreichen Autoren zu gestalten. Wir hoffen auch, dass es uns gelungen ist, zu zeigen, dass das Thema Psychokardiologie im Grunde für jede Psychotherapeutin und jeden Psychotherapeuten wichtig ist. Herzkrankheiten betreffen Patienten – aber auch uns – in besonderer Weise; nicht nur weil sie die häufigste Todesursache sind, sondern weil das Herz ein ganz „besonderes” Organ ist: Störungen der Herzfunktion werden oft viel unmittelbarer und bedrohlicher erlebt als Erkrankungen anderer Organsysteme. Gleichzeitig vermag eine erfolgreiche Bewältigung der Erkrankung und eine gesundheitsfördernde Veränderung des Lebensstils in deutlich stärkerem Maße als auf vielen anderen Gebieten der Medizin dazu beitragen, Lebensqualität zu verbessern und Lebenszeit zu verlängern. Auch aus diesem Grund sind Psychoedukation und – bei allerdings oft unzureichenden Ressourcen – psychotherapeutische Mitbetreuung obligate und wirkungsvolle Bestandteile der kardiologischen Rehabilitation. Das Praxisfeld Psychokardiologie steht hier für eine systematische Integration psychosozialer Aspekte in die Medizin.

Aber es gibt noch viel zu tun: Psychische Symptome werden bei Herzpatienten in Klinik und Praxis noch viel zu selten diagnostiziert und noch seltener angemessen behandelt. Allerdings beginnt sich in der Kardiologie und Kardiochirurgie eine bemerkenswerte Offenheit gegenüber psychosozialen Aspekten abzuzeichnen (siehe dazu auch die Interviews mit Michael Böhm bzw. Hans-Joachim Schäfers), der wir nun freilich auch mit einer größeren Bereitschaft und Kompetenz zur Behandlung von psychisch komorbiden Herzpatienten begegnen müssen. Dieses Heft sollte Sie dabei unterstützen, Ihr Gefühl der Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit der nicht selten komplexen Behandlungsanforderungen zu vertiefen.

Georg Titscher beschreibt in seinem Standpunktartikel einführend die Praxisfelder der Psychokardiologie. Die Beiträge von Andreas Schwerdtfeger zur Psychophysiologie sowie von Alexandra Boese, Katja Jamrozinski und Christoph Herrmann-Lingen zu den Wechselwirkungen zwischen biografischen Belastungsfaktoren, Selbstfürsorge und Gesundheitsverhalten fassen praxisrelevante Ergebnisse aus über 50 Jahren psychokardiologischer Grundlagenforschung zusammen. Empirisch ist gut belegt, was wir aus der klinischen Praxis bereits geahnt haben: Unser Start ins Leben entscheidet in wesentlichem Maße mit darüber, wie wir in späteren Jahren mit uns selbst umgehen und auf uns achten. Hinter einer aus ärztlicher Sicht mangelhaften Adhärenz kann sich auch eine schlechte Selbstfürsorge und ein krank machender Umgang mit sich selbst verbergen. Dieses tiefere Verständnis für Patienten kann helfen, eigenen Ärger abzubauen und wieder einen therapeutischen Zugang eröffnen.

In der Psychophysiologie kam es in der Vergangenheit zu einer gewissen Ernüchterung, was die klinische Übertragbarkeit von Ergebnissen der Grundlagenforschung betraf. Deutlich wurde, dass die Beziehung zwischen Stress und Risikoerhöhung nicht linear dosisabhängig ist. Hinzu kommt, dass sich die teilweise eindrucksvollen Ergebnisse von Laborergebnissen nur bedingt in den klinischen Alltag übertragen lassen. Andreas Schwerdtfeger hat auf anschauliche Weise gezeigt, wie mit einem neuen Forschungsparadigma, welches die Forschung zunehmend vom Labor ins natürliche Feld führt, hier neue Impulse für die klinische Praxis zu erwarten sind.

Der Beitrag von Christian Albus zu psychosozialen Aspekten bei Erstehung und Verlauf der koronaren Herzerkrankung schlägt den Bogen von der Grundlagenforschung zur klinischen Praxis. Nachdem das Konzept des Typ-A-Verhaltensmusters empirisch nicht mehr bestätigt werden konnte, trat bei der koronaren Herzkrankheit in der Psychokardiologie eine Phase der Resignation und Stagnation ein. Diese ist allerdings inzwischen Geschichte. Wie Albus darstellt, erhöhen sowohl Stress am Arbeitsplatz als auch ungünstige sozioökonomische Bedingungen, mangelnde soziale Unterstützung, Persönlichkeitsmuster (vor allem das Typ D-Muster) als auch Angst und Depressivität nicht nur das Risiko, an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken, sie verschlechtern auch deren Prognose. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie spielen also bei der interdisziplinären Prävention, Therapie und Rehabilitation dieser Volkskrankheit nach wie vor eine wesentliche Rolle. Dies sollte uns allerdings nicht zu der Annahme verleiten, die koronare Herzerkrankung psychotherapeutisch „heilen” zu können. Gerade in den Anfangsjahren der Psychosomatik führte die Erwartung, mit der Behandlung der zugrunde liegenden Konflikte eine wirklich kausale Therapie auch für somatische Erkrankungen zu haben, zu überzogenen Erwartungen und großen Enttäuschungen. In diesen Fehler sollten wir nicht zurückfallen. Die koronare Herzerkrankung ist ein multifaktorielles Geschehen, entsprechend komplex muss auch die Behandlung sein. Daher ist es schwierig, den Effekt eines einzelnen Behandlungsverfahrens (z. B. auch der Psychotherapie) gerade auf den Langzeitverlauf sicher nachzuweisen. Auch von diesen Schwierigkeiten berichtet Albus in seinem Beitrag.

Ein „Herzstück” dieses Heftes sind diejenigen Beiträge, die sich mit den Besonderheiten befassen, die sich bei der Behandlung von Patienten mit psychischer Störung und komorbider Herzerkrankung in der psychotherapeutischen Praxis ergeben. Jochen Jordan und Benjamin Bardé zeigen dies für die psychodynamische Therapie, Volker Köllner, Franziska Einsle und Heinz Rüddel für die Verhaltenstherapie und Florian Lederbogen für die Pharmakotherapie.

Es folgen Beiträge, die sich mit speziellen klinischen Fragestellungen befassen. Ebenfalls eine Volkskrankheit mit fatalen Langzeitfolgen für Lebensqualität und Lebenserwartung ist die arterielle Hypertonie. Heinz Rüddel zeigt, dass auch hier multimodale Behandlungsstrategien den besten Erfolg bringen. Immer noch ist die Mehrheit der Hypertoniker nicht optimal behandelt. Angesicht der klaren Evidenz für die Bedeutung verhaltensbezogener und psychosozialer Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung der arteriellen Hypertonie wäre es eine vertane Chance, diesen Aspekt in einer Richtlinienpsychotherapie außer Acht zu lassen. Metaanalysen konnten zeigen, dass individuelle Verhaltenstherapie – möglicherweise über eine Optimierung von Stressbewältigungsstrategien – einen positiven Einfluss auf den Blutdruck hat. Zusätzlich können Verhaltensänderungen gezielt unterstützt werden – hier kommt es darauf an, dass Hausarzt und Psychotherapeut Hand in Hand und nicht gegeneinander arbeiten. Die teilweise kontroverse Diskussion um die Berichtspflicht in der Richtlinienpsychotherapie zeigt, dass Vernetzung und Kooperation noch nicht zu unserem Selbstverständnis gehören. Das Praxisfeld Psychokardiologie macht deutlich, dass viel Energie und viel therapeutische Wirksamkeit gewonnen werden können, wenn die Vernetzung innerhalb unterschiedlicher professioneller Kooperationspartner im Gesundheitswesen verbessert wird.

Eine noch weitgehend „unbekannte” Volkskrankheit ist die Herzinsuffizienz. Als Folge besserer Behandlungsmöglichkeiten der akuten Herzerkrankungen (z. B. Herzinfarkt) einerseits und einer alternden Gesellschaft andererseits nimmt die Anzahl der Menschen drastisch zu, die durch eine chronische Herzschwäche in ihrer Bewegungsfreiheit und Lebensqualität eingeschränkt sind. Denise Fischer und Volker Köllner zeigen, welche engen Wechselwirkungen hier zwischen körperlicher Beeinträchtigung, kognitiven Fähigkeiten und Stimmungslage bestehen. Kognitive Einschränkungen können sowohl als Folge einer schweren körperlichen Erkrankung als auch als Medikamentennebenwirkung oder als Symptom der Depression entstehen. Ihre Häufigkeit und ihre Bedeutung werden in der Psychotherapie nach wie vor unterschätzt und zu selten wird ihr Ausmaß in einer neuropsychologischen Testung auf adäquate Weise festgestellt. Dabei sind die therapeutischen Konsequenzen beträchtlich: Einerseits gilt es, eine Überforderung des Patienten in einer zu sehr auf Klärung und Veränderung fokussierten Therapie zu vermeiden, andererseits stehen neuropsychologische Trainingsverfahren zur Verbesserung der kognitiven Funktion zur Verfügung.

Die Beiträge von Karl-Heinz Ladwig, Christina Henningsen, Joram Ronel und Christoph Kolb (Patienten mit implantiertem Cardioverter / Defibrillator), Michael Langenbach (Herztransplantation) und Brigitte Bunzel (Kunstherz) beschäftigen sich mit Themen, die zwar jeweils nur eine kleinere Gruppe von Patienten betreffen, die aber nicht minder spannend sind. In allen drei Beiträgen geht es darum, Menschen in Extremsituationen zu begleiten und mit ihnen Bewältigungsstrategien für Situationen zu entwickeln, die von unserem Alltagsverständnis von Gesundheit eigentlich weit entfernt sind. Ein Gerät in sich tragen, das einen automatisch vom (unmittelbar bevorstehenden) Tod wiedererweckt? Das Herz eines Fremden in sich tragen? Ein künstliches Herz? Solche Vorstellungen wären vor wenigen Generationen noch völlig absurd gewesen. Die Hightechmedizin entwickelt Behandlungsstrategien, die Menschen helfen können, die ansonsten keine Überlebenschance gehabt haben. Sie stellt diese Menschen aber auch vor die Herausforderung, ihr Leben unter Umständen neu zu organisieren, die für sie vielleicht wenige Jahre vorher noch unvorstellbar gewesen wären. Alle drei Beiträge zeigen, wie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten hier Lotsen bei diesem Aufbruch ins Ungewisse sein können und wie sie oft auch als Mittler zwischen der Welt der Hightechmedizin und der Patienten gebraucht werden.

Herzangst verbindet sowohl Herzkranke als auch „herzgesunde” Psychotherapiepatienten. Diesem Thema widmet sich der abschließende Beitrag von Jürgen Hoyer und Ulrike Luecken. Obwohl die aktuellen diagnostischen Kataloge Herzangst oder Herzphobie nicht mehr als eigenständiges Krankheitsbild beschreiben, macht es gerade in der Psychokardiologie Sinn, herzbezogene Ängste gezielt zu erfassen. Die Autoren stellen hier diagnostische Instrumente und sich hieraus ergebende klinische Konsequenzen dar.

Vielleicht vermissen Sie in unserer Übersicht ausführlichere Beiträge zur psychotherapeutischen Beeinflussung kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Rauchen, Adipositas und Bewegungsmangel. Diesen Aspekt haben wir ausgeklammert, weil hierzu bereits 2008 ein Themenheft der Psychotherapie im Dialog zum Thema „Gesundheitsverhalten” erschienen ist, dessen Beiträge nach wie vor aktuell sind.

Die Zusammenschau der Beiträge dieses Heftes zeigt, welches Spezialwissen zu ursächlichen Zusammenhängen und störungsspezifischen Behandlungsstrategien sich im Bereich der Psychokardiologie inzwischen angesammelt hat. Deswegen war es eine natürliche Entwicklung, zur Vermittlung dieses Wissens ein Curriculum Psychokardiologie zusammenzustellen, das von Christoph Herrmann-Lingen federführend organisiert und auch in diesem Heft beschrieben wurde. Dieses Curriculum ist nicht nur in seinen Inhalten repräsentativ für die Psychokardiologie, sondern auch in der Art der Durchführung: Sowohl Kardiologinnen und Kardiologen als auch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vertiefen hier ihre Kenntnisse gemeinsam und das Curriculum lebt von interdisziplinärem Dialog und von den gemeinsamen Fallbesprechungen. Wenn unser Themenheft Ihre Neugier auf Psychokardiologie geweckt hat, sind Sie herzlich zu einer Teilnahme eingeladen. Auf keinen Fall möchten wir aber den Eindruck erwecken, dass die Teilnahme an einem solchen Curriculum unbedingte Voraussetzung dafür wäre, mit Herzkranken oder Hypertonikern psychotherapeutisch zu arbeiten. Wir alle verfügen über eine solide psychotherapeutische Grundausbildung sowie über ein Studium, in dem wir hoffentlich gelernt haben, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in unsere Praxis zu integrieren. Was wir mit unserem Heft vor allem erreichen wollten, ist, Ihnen dieses Wissen in anschaulicher Form zur Verfügung zu stellen, um Sie zu ermutigen, in Ihrer täglichen Praxis „psychokardiologisch” aktiv zu sein. Das Herz geht uns alle an, wir sollten es bei der Vielzahl von Patientinnen und Patienten, die unsere Hilfe benötigen, nicht zu einer Sache einer kleinen Gruppe von Spezialisten machen.

    >