Sprache · Stimme · Gehör 2011; 35(1): 4-5
DOI: 10.1055/s-0031-1276668
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Vorsorgeuntersuchungen – Besserer Spracherwerb nach Neugeborenenhörscreening

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Publication Date:
08 April 2011 (online)

 

Ein Neugeborenenhörscreening ist in den meisten entwickelten Staaten inzwischen etabliert. Dabei geht man bei angeborenen Schwerhörigkeiten von einem Vorteil des Behandlungsbeginns in den ersten 6 Lebensmonaten gegenüber einem späten Beginn mit 2œ-3 Jahren aus. Die Wirksamkeit wurde nun in einer Studie aus den Niederlanden untersucht.
JAMA 2010; 304: 1701–1708

Das Neugeborenenhörscreening führt zu früherer Behandlung hörauffälliger Kindern – und damit u.a. zu besserer expressiven Sprachentwicklung, allgemeinen Entwicklung und höherer Lebensqualität (Bild: R. Schönweiler).

In Deutschland hat man das Neugeborenenhörscreening in Ergänzung zu den Hörscreenings kinder- und jugendärztlicher Vorsorgeuntersuchungen durch Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Anfang 2009 als "Anspruch" für jedes Neugeborene definiert.

Zu Beginn des nächsten Jahres, 2012, wird das Institut für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, auf der Basis von 3 Jahren Erfahrung beurteilen, ob eine Fortführung des Anspruchs gerechtfertigt ist. Doch wie sollen wir die "Wirksamkeit" beweisen, wo doch unsere "Qualitätssicherung" – falls überhaupt – nur durch Spenden finanziert wird und darüber hinaus das Screening nur in Bundesländern wirklich flächendeckend "funktioniert", die es auch schon vor dem 1.1.09 etabliert hatten?! Es ist eine typische "no-win"-Situation, in die wir uns hineinmanövriert haben!

Deshalb blicken wir in Deutschland hoffnungsvoll auf Publikationen aus Staaten, die viel früher als Deutschland ein qualitätsgesichertes und flächendeckendes Neugeborenenhörscreening (mit automatischen TEOAE) eingeführt haben und deshalb mittlerweile Kinder im Alter von 4 -10 Jahren hinsichtlich der Lautsprachentwicklung mit später Behandelten vergleichen können. Dass solche Daten nicht nur für uns in Deutschland hochinteressant sind, belegt die Tatsache, dass die Daten aus den Niederlanden in einem Journal für die allgemeine Medizin, dem Journal der American Medical Association, publiziert wurden.

In den Niederlanden wurde zwischen 2003 und 2005 gut die Hälfte der Geburten durch qualitätskontrolliertes Screening erfasst. Gut 335.000 Kinder erhielten ein Neugeborenenhörscreening und gut 234.000 Kindern erhielten "normale" kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen mit Hörtests erst vom 9. Lebensmonat an.

263 früh versorgte Kinder wurden mit 171 später versorgten Kindern im Alter von 3-5 Jahren verglichen. Die Randbedingungen in den Studiengruppen waren gleich (z.B. die Prävalenz angeborener Schwerhörigkeiten um 0,7 pro 1 000 Geburten, die Verteilung der Hörverluste und das soziale Umfeld der Studienteilnehmer). Outcome-Parameter waren die Zahl der lautsprachlich kommunizierenden vs. mit Gebärden kommunizierenden Kinder sowie die Scores aus den folgenden Fragebogentests, die durch die Eltern ausgefüllt wurden: ein allgemeiner Entwicklungstest (Child Development Inventory), ein Test der expressiven Sprachentwicklung (MacArthur Communicative Development Inventory) und ein Test der Lebensqualität (Pediactric Quality of Life Inventory 4.0).

In allen Tests erreichen die frühbehandelten Kinder hochsignifikant und bedeutsam bessere Ergebnisse als die später behandelten. "Bedeutsam" heißt hier, dass die Unterschiede in Bezug auf die allgemeine Entwicklung, Sozialkompetenz, expressiven Sprachentwicklungsebenen (die Lautentwicklung wird aber nicht erwähnt) und Zahl der gebärdenden Kinder mindestens eine Standardabweichung betrugen, ausgenommen der aktive Wortschatz (hier nur ein statistische Signifikanz mit einem Unterschied von weniger als einer Standardabweichung, aber immerhin...) und die maximale Länge der Sätze. Nicht vergessen darf man natürlich, dass alle Kinder nicht nur Hörgeräte oder Cochlea-Implantate erhielten, sondern auch eine Förderung bzw. eine Sprachtherapie. Die Lebensqualität von frühversorgten Kindern war ebenfalls signifikant höher als bei später versorgten, ausgenommen emotionale Subskalen, was die bekannte Erkenntnis stützt, dass gebärdende Kinder genauso "glücklich" sind wie "hörende" (plakativ und provokant ausgedrückt: sie wissen ja nicht, was ihnen entgeht...). In der Diskussion werden selbstverständlich auch Möglichkeiten angesprochen, wie die Ergebnisse hätten verzerrt werden können. Doch wird sie jeder Leser als wenig bedeutsam einschätzen.

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