PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(4): 277-278
DOI: 10.1055/s-0031-1276963
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom Erkunden neuer Felder

Michael  Broda, Michael  Brünger
Further Information

Publication History

Publication Date:
13 December 2011 (online)

Wie kann man auf die Idee kommen, ein Heft über Anfälle zu machen?! Was für Anfälle überhaupt und wieso zusammengefasst? Als ob sich die Ätiologien und Nosologien nicht gründlich unterschieden. Und außerdem: Wir sind Psychotherapeuten und keine Neurologen! Das Signal der potenziellen AutorInnen aus dem neurologischen Fachgebiet blieb nicht aus: „Was soll ich da als Neurologe schreiben …, das müssten Sie doch eigentlich viel besser wissen!“

Wir sind auf die Idee gekommen und je mehr wir uns mit dem Heftkonzept und den Beiträgen der von uns angeworbenen AutorInnen beschäftigt hatten, desto besser gefiel uns die Idee. Dieses Heft handelt von beschriebenen und erlebten Zustandsbildern von PatientInnen, die

erlebt und wahrgenommen schwer differenzialdiagnostisch beurteilt werden können, im akuten Geschehen unser Haupthandwerkszeug, die verbale Intervention, wirkungslos machen, bei uns zu Hilflosigkeit und Überforderung führen können, im Verhalten kaum präzise vorhersagbar oder erklärbar sind.

Spannend fanden wir auch, den Schnittbereich zwischen Neurologie und Psychotherapie, zwei Fächer, die ja in der alltäglichen Praxis sonst wenige Berührungspunkte haben, zu beleuchten und somit den Versuch zu machen, eine Brücke zwischen präzisen Messverfahren und Bildgebungen und weichen, oft unscharfen Erlebnisdimensionen zu schlagen.

Michael Brünger (Klingenmünster) und Hans Mayer (Kork) stellen das Themenspektrum der Anfallsleiden in dem Standpunktebeitrag vor. Beide sind klinisch erfahrene Therapeuten, einmal mit ärztlich-psychotherapeutischem, zum anderen mit neuropsychologischem Hintergrund – also einer für das vorliegende PiD-Heft wichtigen und für die Behandlung von Anfallserkrankungen unerlässlichen Kombination. Sie beschreiben die Geschichte und epidemiologische Aspekte ebenso wie die Fortschritte auf der Behandlerseite und in der Versorgungslandschaft.

Michael Brünger schließt daran einen Beitrag mit „Wissenswertes für Psychotherapeuten“ an: Fakten, die wir bei der Behandlung von Menschen mit Anfallsleiden berücksichtigen müssen, um mehr Behandlungssicherheit zu bekommen.

Philine Senf war zum Zeitpunkt des Beitrags Neurologin an der Charité und verdeutlicht die vielen Aspekte der Epilepsieerkrankung sowie die häufigsten psychischen Komorbiditäten. Froh waren wir auch, Annegret Eckhardt-Henn aus Stuttgart gewinnen zu können, die, ebenfalls durch Fallbeispiele angereichert, psychodynamische Zugangs- und Interpretationswege aufzeigt.

Vertieft werden die psychotherapeutischen Überlegungen in den Beiträgen von Andrea Möllering vom bundesweit bekannten evangelischen Krankenhaus Bielefeld für die psychodynamische Perspektive sowie von Kathlen Priebe vom ZI Mannheim und Kolleginnen von der renommierten Verhaltenstherapie-Ambulanz der Uni Frankfurt.

Somit haben wir im ersten Teil ein breites Wissens- und Behandlungsangebot mit Vertretern wichtiger Versorgungsinstitutionen in Deutschland (Kehl-Kork, Charité Berlin, Stuttgart, Freiburg, Mannheim, Bielefeld, Frankfurt und Klingenmünster), die entweder epilepsiespezifische Therapie anbieten, oder auch Institutionen, die sich mit der Behandlung dissoziativer Zustände bei Kindern und Erwachsenen befassen.

Doch die Beschäftigung mit dem Thema Anfälle hat viele weitere Facetten:

Die wichtige Frage der Pharmakotherapie wird von Adelheid Wiemer-Kruel aus Kork abgehandelt, und Andreas Schulze-Bonhage vom Epilepsiezentrum Freiburg stellt die Möglichkeiten der Epilepsie-Chirurgie vor.

Steffi Koch-Stoecker und Tilman Polster (Bethel) verdeutlichen in ihrem Beitrag die Aspekte, die vor und nach einem chirurgischen Eingriff sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eine Rolle spielen.

Friedrich Kassebrock (Bethel) zeigt auf, welche Beratungsmöglichkeiten genutzt werden können, um Eltern von an Epilepsie erkrankten Kindern eine Entscheidungshilfe und auch möglicherweise eine psychotherapeutische Unterstützung an die Hand zu geben.

Fragen der Konsequenzen für Ausbildung, Arbeitsplatzgestaltung und Gefährdung am Arbeitsplatz werden von Ingrid Coban (ebenfalls Bethel) beantwortet. Sie referiert auch die Leitlinien „zur Kraftfahreignung“.

Dieses Heft sollte auch ein Heft mit möglichst vielen anschaulichen Fällen werden: Inka Aspacher und Kolleginnen (Klingenmünster) geben einen Einblick anhand mehrerer Fallvignetten in die schwierige stationäre Arbeit mit Jugendlichen, die anfallsartige Zustände haben, von Anfällen betroffen sind, betroffen machen. Miriam Weisenburger und Kolleginnen (Stuttgart) präsentieren den Fall einer Patientin mit einer vermuteten artifiziellen Störung in stationärer Behandlung.

Michael Brünger interviewt zwei betroffene PatientInnen, die anschaulich und persönlich ihr Leben mit einer Anfallserkrankung schildern.

Wussten Sie, dass das weltweit einzige Epilepsie-Museum in Kehl-Kork steht? Vermutlich nicht. Michael Brünger begleitet Sie auf einem Rundgang durchs Museum und stellt Ihnen im Interview noch den Epileptologen Hansjörg Schneble vor, der Kliniker und medizinhistorischer Forscher zugleich ist.

Wie gewohnt lesen Sie die Rubrik DialogLinks von Christiane Eichenberg und Demetris Malberg (Köln) mit vielen hilfreichen Internetadressen für Betroffene und Helfer sowie die Rubrik DialogBooks, diesmal von Christina Huber (Pirmasens), in der sie Bücher von PatientInnen für PatientInnen oder auch von Profis für Betroffene, aber auch Fachbücher vorstellt.

Neue Wege beschreiten wir in der Rubrik „Im Dialog“: Bettina Wilms, die Mitherausgeberin der PiD und Mitheftherausgeberin des ADHS-Heftes (3 / 11) greift nochmals Fragen auf, die nach Erscheinen dieses Heftes gestellt wurden, und bezieht dazu Stellung.

Wie seit einigen Ausgaben machen wir auf ein empfehlenswertes und den Gedanken des Dialogs in sich tragendes Buch aufmerksam und stellen diesmal in einer Rezension von Tilman Rentel (Nürnberg) ein neu aufgelegtes Buch von Luise Reddemann vor.

Insgesamt hoffen wir, dass wir Ihnen nach Lektüre dieses Heftes mehr Einblicke in die vielfältigen Behandlungsmöglichkeiten von Epilepsie, aber auch psychogener Anfallserkrankung geben konnten und Ihnen damit, auch angeregt durch die vielen Falldarstellungen, zu mehr Behandlungssicherheit verhelfen können.

Wie wollen aber auch nicht verschweigen, worauf Sie in diesem Heft verzichten müssen: Bei unseren ersten Planungen kam uns die Idee, eine Parallele zwischen einem Anfallsgeschehen (individuell) und einem Erdbeben (gesellschaftlich) herzustellen. Wir hatten auch schon Kontakt zu Betroffenen, die das große Erdbeben in Kobe, Japan, miterlebt hatten, und wollten deren Erleben dem Erleben Anfallsbetroffener gegenüberstellen. Eine Woche, nachdem wir die Zusage zum Interview hatten, bebte in Japan erneut die Erde und löste die Katastrophe von Fukushima aus, die uns bis heute beängstigt, verfolgt und durch immer neue Szenarien in Atem hält. Es war uns sofort klar, dass wir auf diese Parallele verzichten müssen, da wir das unendliche, auch noch andauernde menschliche Leid in einer Fachzeitschrift in seinen Dimensionen unmöglich abbilden können. Das in aller Hilflosigkeit entstandene starke Mitgefühl mit den Opfern und Betroffenen relativiert die oft über unsere Köpfe zu wachsen drohenden Probleme und hilft uns den Blick zu schärfen, auf das, was wir haben und womit es uns gut geht. Und dies könnte eine Überschrift für manche Behandlung im Sinne einer Fokussierung auf Ressourcen von PatientInnen mit Anfallsleiden sein.

Es grüßen Sie herzlich

Michael Broda und Michael Brünger

In eigener Sache

Dinge verändern sich und dies trifft auch auf den Kreis der PiD-Herausgeber zu: Den aufmerksamen PiD-Lesern ist sicher aufgefallen, dass Jochen Schweitzer, Gründungsherausgeber der PiD, seit dem Jahr 2011 nicht mehr dem Herausgebergremium angehört. Er war zehn Jahre lang für PiD tätig und hatte neben den vielen Heften, die er verantwortlich mitherausgab, einen ganz wichtigen Platz als Ideengeber und innovativer Denker. Er hat sich entschlossen, seine beruflichen Schwerpunkte anders zu setzen und seinen Platz in der Herausgeberrunde zu räumen. Da er dies schon seit Längerem angekündigt hatte, hatten wir mit Maria Borcsa und Bettina Wilms seinerzeit auch schon zwei systemisch orientierte Kolleginnen gewinnen können, um die beiden systemischen Urgesteine, Arist von Schlippe und eben auch Jochen Schweitzer, zu beerben.

Jochen Schweitzer sei an dieser Stelle nochmals herzlich für seine Mitarbeit und sein Einbringen auch internationaler Kontakte gedankt. Er wird PiD sicherlich auch weiterhin verbunden bleiben.

Michael Broda

Schriftleitung

    >