PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(4): 353-355
DOI: 10.1055/s-0031-1276971
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Epilepsie – eine Krankheit im Spiegel der Menschheitsgeschichte

Hansjörg  Schneble im Gespräch mit Michael  Brünger
Further Information

Publication History

Publication Date:
13 December 2011 (online)

PiD: Warum ein Museum zu den Epilepsien? Was unterscheidet diese neurologischen Erkrankungen von Multipler Sklerose oder Schlaganfall?

Hansjörg Schneble: Ein Grund, für diese Krankheit ein eigenes Museum einzurichten, ist allein schon ihr häufiges Auftreten: Nach den zerebralen Durchblutungsstörungen ist die Epilepsie (hier und im Folgenden Sammelbegriff für unterschiedliche Epilepsie-Erkrankungen) die häufigste chronische neurologische Krankheit – in den sog. Industrieländern hat sie eine Prävalenz von 0,5 bis 1 %; die Häufigkeit in den sog. Entwicklungsländern beträgt bis zu 4 bis 5 %!

Im Gegensatz zu Schlaganfällen ist die Epilepsie in jedem Lebensalter häufig, besonders aber in der Kindheit und im Alter (> 60 Jahre). Und im Gegensatz zur Multiplen Sklerose sind die Behandlungserfolge beeindruckend – etwa 60 % aller Patienten können mithilfe moderner Therapien (deren wichtigste die medikamentöse Behandlung darstellt) ganz von ihren Anfällen befreit werden – wobei die Art der Therapie natürlich immer auch von der Epilepsieursache abhängig sein muss.

Was sollen die Besucher als neuen Gedanken mitnehmen, wenn sie Ihr Museum besucht haben?

Das Epilepsiemuseum will über diese Tatsachen informieren, Vorurteile abbauen und die medizin-, sozial- und kulturhistorische Entwicklung, die die Krankheit in Jahrtausenden genommen hat, aufzeigen.

Wer kommt ins Museum, welche Besuchergruppe möchten Sie besonders ansprechen? Welche Besucher überraschen Sie am meisten? Welche Kommentare im Besucherbuch haben Sie besonders berührt?

Die Besucher kommen aus sehr unterschiedlichen Gründen in unser Museum. Zum einen sind es ganz einfach die Neugierigen, die über Epilepsie bisher nichts oder nur sehr Unvollständiges wussten, zum anderen sind es die Selbst-Betroffenen, die ihre eigene Krankheit noch besser kennen lernen und sich allgemein über den derzeitigen Wissensstand bezüglich dieser Krankheit informieren wollen. Der größte Teil der Besucher setzt sich aus Personen zusammen, die in ihrem Alltag mit Epilepsiekranken zu tun haben – seien es Laien wie die Angehörigen oder Freunde epilepsiekranker Menschen, oder auch „Professionelle“ wie Pädagogen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern und -pfleger, Ärzte, Psychologen, Betreuer usw. Immer wieder kommen auch Schüler und Studenten, die sich – z. B. im Rahmen einer Referatsvorbereitung, einer Haus-, Abschluss- oder Diplomarbeit – speziell für die Medizin-, Sozial- oder Kulturgeschichte der Epilepsie interessieren, und dabei nicht zuletzt auch die Bibliothek des Museums benützen wollen.

Wenn ich dann im Besucherbuch z. B. lese, dass der Gang durchs Museum beim Besucher ein ganz neues Bild der Epilepsie vermittelt hat, dann weiß ich, dass die Museumsgründung vor 13 Jahren ein richtiger Schritt war.

In der Medizingeschichte finden sich viele Beispiele des kranken Menschen als „Objekt der Behandlung“. Wie weit reichen Ansätze bei der Behandlung der Epilepsien zurück, den Betroffenen selbst in den Mittelpunkt zu stellen und ihm etwas in die Hand zu geben für eine „eigenmächtige“ Bewältigung?

Aus der Antike (z. B. aus der graeco-romanischen Epoche) können wir lernen, dass die damaligen Ärzte (die ja noch nicht im Besitz objektiv wirksamer Heilmittel waren) ihren Patienten Möglichkeiten der „Selbst-Behandlung“ aufgezeigt haben; diese betrafen insbesondere die Diätetik, also die gesunde, vernünftige Lebensführung. Im europäischen Mittelalter wurde diese rationale Sichtweise durch die christliche Glaubenswelt verdrängt – Epilepsie war Strafe für falsches Verhalten, für „Sünde“, für Zuwiderhandlungen göttlicher Gebote („scheddelnde Gottesstraf“). Die „Eigenbehandlung“ konnte allenfalls in Reue, Buße und einem gottesfürchtigen Leben bestehen. Weitsichtige christlich und rational denkende Persönlichkeiten, wie z. B. Hildegard von Bingen, versuchten, den Kranken eine „Kombinationsbehandlung“ aus gottgefälligem Leben und davon unabhängiger „Therapie“ (z. B. mit Diät oder bestimmten Pflanzen) nahe zu bringen. Mit Beginn des eigentlichen wissenschaftlichen Denkens (etwa ab dem 17. Jahrhundert) und schließlich der Entwicklung objektiv wirksamer Medikamente (ab Mitte des 19. Jh.) traten medizinische Überlegungen und Veranlassungen ganz in den Vordergrund. Heute spielen neben den modernen (medikamentösen und chirurgischen) Behandlungsmethoden auch individuelle Verhaltensweisen zur Anfallshemmung und Besserung der Krankheit wieder eine große Rolle.

Wann sind erstmals Rituale der Heilung mit epilepsiekranken Menschen nachweisbar? Seit wann gibt es (in die jeweilige Kultur und Gesellschaft eingebettete) „psychotherapeutische“ Behandlungsversuche bei Epilepsie?

In der Antike kam rituellen Vorgängen bei den Heilversuchen durchaus eine wichtige Rolle zu – vom Heilschlaf im Asklepieion über Traumdeutungen bis zu von den Theorien der Humoralpathologie bestimmten Verhaltensmustern. Im Mittelalter waren Rituale in erster Linie vom christlichen Glauben, der mitunter die Grenze zum Aberglauben überschritt, bestimmt (Gebete, Fallsuchtsegen, Wallfahrten, Fastenzeiten, Exorzismen). In der Neuzeit, als Epilepsie zeitweise als Neurose galt, wurden entsprechende zeitgemäße psychotherapeutische Maßnahmen angewandt. Heute spielen psychotherapeutische Verfahren bei der neurologischen Erkrankung „Epilepsie“ keine entscheidende Rolle – aber ganz bestimmt in der Behandlung und Prophylaxe von sekundären psychosozialen Störungen, von dissoziativem Verhalten, von krankheitsbedingten zwischenmenschlichen Problemen. Eine Epilepsiebehandlung ohne psychologische bzw. psychotherapeutische Begleitung ist in aller Regel keine gute, zumindest keine ausreichende Behandlung.

Welche Errungenschaften in der Behandlung und Hilfe von Menschen mit Epilepsie würden Sie als bahnbrechend, als Durchbruch bezeichnen?

Bahnbrechend war bereits um 400 v. Chr. die Feststellung Hippokrates', dass das Gehirn „schuld“ an diesem Leiden sei (eine zutreffende Aussage, die dann wieder über viele Jahrhunderte hinweg negiert wurde). Im 17. Jahrhundert war es der Beginn einer überwiegend rationalen Medizin. Als weitere Meilensteine können angeführt werden: Das wissenschaftliche Denken und Experimentieren im 19. Jahrhundert, die Entdeckung anfallshemmender Substanzen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (1857: Brom; 1912: Luminal; 1938: Phenytoin), die Entdeckung des menschlichen EEGs durch Hans Berger (1920 / 30) und nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung der Bildgebung und der Epilepsiechirurgie (deren Anfänge allerdings schon in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts reichen).

Welcher Irrglaube, welche aus heutiger Sicht „falschen“ Ansätze haben die Kranken am meisten gequält?

Die Schuldzuweisungen bzgl. der Ursache einer Epilepsie („Folge von Sünde“) und die auch von Ärzten bis in die Neuzeit hinein vertretene Meinung, die Epilepsie könne ihren Sitz auch in anderen Organen als dem Gehirn haben (was zu entsprechenden unsinnigen, ineffektiven und nicht selten schädlichen „therapeutischen“ Maßnahmen führte) waren oft Ursache für psychische und physische Leidenszustände bei den Patienten.

Welche neuen Exponate wird es in Ihrem Museum in 50 Jahren geben, welche Meilensteine der Hilfe und Bewältigung liegen noch vor uns?

Die Meilensteine bzgl. der Epilepsiediagnostik werden in der Verbesserung der Bildgebung und in neuen Erkenntnissen im Hinblick auf Genetik und Stoffwechsel liegen, bzgl. der Therapie in der Verbesserung und Ausweitung der medikamentösen Substanzpalette, der Verbesserung der (mikro-)chirurgischen Eingriffe und der Entwicklung intrazerebral einzubringender Stimulatoren. Solche möglichen medizinischen Fortschritte müssen begleitet sein von einer Verminderung der negativen psychosozialen Folgen der Epilepsie, einer weiteren Enttabuisierung, einer Zunahme von Toleranz und Integrationsbestrebungen.

Eine besonders große, entscheidend wichtige, bisher allzu sehr vernachlässigte Aufgabe wird sein: die Verbesserung der medizinischen und sozialen Situation von Anfallskranken in den sog. Entwicklungsländern!

Können Epileptologen unserer Zeit noch etwas von ihren Kollegen aus früheren Jahrhunderten lernen?

Ja, durchaus! In früheren Zeiten mussten Ärzte ihre Diagnosen ohne apparative und Laboruntersuchungen stellen – die klinische Diagnostik war gefragt! Aus diesem Grund waren Anamneseerhebung, Patienten-Beobachtung, der „klinische Blick“, die vergleichende Beurteilung, das analysierende Denken, langjährige Erfahrung und die aus diesen klinischen Erkenntnissen resultierenden Schlussfolgerungen von ganz besonderer Bedeutung – mehr als in der heutigen Zeit, in der die apparative Diagnostik das Klinische leider allzu oft in den Hintergrund drängt.

In prophylaktischer Hinsicht waren die Grundzüge einer Diätetik den „alten Ärzten“ vertrauter als vielen modernen Medizinern. Dass Alkoholgenuss, Schlafmangel und übermäßige körperliche Belastung das Auftreten von epileptischen Anfällen begünstigen können, ist eine Erkenntnis, die bereits in der Antike gewonnen wurde. Selbst die Fotosensibilität war bereits in altrömischer Zeit als Phänomen bekannt (auch wenn sie noch nicht richtig gedeutet werden konnte): Die römischen Ärzte wussten, dass beispielsweise eine sich schnell drehende feuchte Töpferscheibe mit ihren flackernden Lichtreflexionen bei manchen Menschen epileptische Anfälle auslösen konnte; diese Beobachtung wurde auch (differenzial-)diagnostisch eingesetzt.

Bezüglich therapeutischer Maßnahmen gab es in früheren Jahrhunderten keine Erkenntnisse, die in unsere Zeit übernommen werden könnten – es sei denn die Beobachtung, dass opiumhaltige Pflanzen, die vor Jahrhunderten gegen Epilepsie eingesetzt wurden, die Anfallsschwelle tatsächlich etwas anheben können.

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

    >