Aktuelle Neurologie 2011; 38(4): 177
DOI: 10.1055/s-0031-1283201
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neurologische Katastrophenmedizin: Was hat uns Neuro-EHEC gelehrt?

Catastrophies in Neurological Medicine: What Have We Learnt From Neuro-EHEC?
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Publication Date:
18 July 2011 (online)

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Prof. Dr. med. Günther Deuschl

Wenn man die Altvorderen unserer Deutschen Gesellschaft für Neurologie fragt, ob sie jemals eine Epidemie einer neurologischen Erkrankung erlebt haben, so antworten sie übereinstimmend mit ‚nein‘. Für alle agierenden Neurologen der Versorgung von Patienten mit der neurologischen Erkrankung bei entero-hämolysierendem E. coli (EHEC) in Verbindung mit einem hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) – und das waren viele – war und ist diese Epidemie eine Erfahrung, die man nur einmal im Leben macht.

Am beeindruckendsten war sicherlich innerhalb kürzester Zeit eine ganz neue neurologische Krankheit kennen zu lernen. Bei Neuro-EHEC wurde ohne relevante Vorliteratur im Sichtflug die Vielfalt dieser Erkrankung erlernt. Wir unterscheiden heute das unspezifische Syndrom einer generalisierten Hirnfunktionsstörung mit motorischen Symptomen, einem Tremor/multifokalen Myoklonien und einer Bewusstseinstrübung bis hin zum Koma oder generalisierten Anfällen bis zum Status von verschiedenen hirnlokale Symptome wie Aphasie, Apraxie oder Hirnstammsyndromen, die sich mit der diffusen Hirnfunktionsstörung kombinieren können.

Die Notfälligkeit der Therapie hat dazu geführt, dass an allen Standorten innerhalb kürzester Zeit Behandlungsroutinen eingeführt wurden (Standardtherapie mit Antiepileptika, Antibiosekarenz…). Wir wissen heute, dass der Keim ein Toxin produziert, das Shiga-Toxin. Dieses ist wahrscheinlich für die Mehrzahl der neurologischen Symptome verantwortlich. Dieses aktiviert eine Entzündungskaskade an den Gefäßwänden. So war es auch folgerichtig mit den behandelnden Internisten zusammen Patienten mit einem hämorhagisch-urämischen Syndrom mit Eculizumab zu behandeln, einem monoklonalen Antikörper, der die Komplement-Kaskade blockiert. Ob dies allerdings auch den Mechanismus im zentralen Nervensystem blockiert, bleibt bis heute offen. Wir haben gelernt, dass der Spontanverlauf und vielleicht auch die spezifischen Behandlungsmaßnahmen bei der Mehrzahl der Patienten zumindest zu eine vorläufigen Erholung geführt haben. Jetzt müssen wir durch systematische Auswertung der Erfahrungen lernen, ob es tatsächlich die spezifischen Behandlungsmaßnahmen oder nicht eher die intensivmedizinische und allgemeine neurologische Betreuung war, die die Patienten gerettet hat.

Eine zweite Lehre aus dieser Erkrankung war, dass es auch in der Neurologie Seuchen geben kann. Vergleichbar mögen die Epidemien mit Polio oder der Enzephalitis lethargica gewesen sein, die damals hauptsächlich von der Inneren Medizin behandelt wurde. Die Klinika des Nordens haben sich an diese Situation rasch angepasst. Es wurde klar, dass Neprologen, Gastroenterologen und Neurologen haupsächlich gefordert sind. Der Keim ist hochkontagiös (100 Keime können die Infektion auslösen). Deshalb war Isolation der Kranken mit Diarrhöen auf speziellen Stationen ein Hauptanliegen. Ein Drittel aller EHEC-Infizierten mit Gastroenteritis entwickelte ein HUS. Von diesen leiden mehr als die Hälfte unter z. T. krankheitsbestimmenden neurologischen Symptomen. Intensivstationen waren deshalb Brennpunkte des Geschehens. In Kiel wurden die Kranken auf wenigen Intensivstationen konzentriert. Elektive Prozeduren mit anschließendem Intensivbedarf wurden gestrichen und Aufwachräume wurden in vorläufige Intensivstationen umgerüstet. Pflegepersonal aus dem Süden der Republik hat freundlicherweise ausgeholfen und so die Situation entspannen geholfen. Teamarbeit mit täglichen Krisenkonferenzen von Ärzten, Pflege, Verwaltung und ministerialer Gesundheitsfürsorge bestimmte das Geschehen und es entstand eine teambildende Kooperation zwischen den Fächern, die beispiellos war.

Nachdem der Gipfel der Erkrankung überwunden ist wird es nun darauf ankommen die Erfahrungen systematisch auszuwerten. Eine Krankheit mit über 3 000 Betroffenen und über 400 neurologisch Kranken sollte reichen das Spektrum der Krankheit hinsichtlich Diagnostik und Therapie zu beschreiben und den neurologischen Lehrbüchern ein neues Kapitel hinzuzufügen.