Gesundheitswesen 2011; 73 - A34
DOI: 10.1055/s-0031-1283588

„[…] ließen ihren eingebildeten chirurgischen Fähigkeiten freien Lauf„ – Private chirurgische Versuche im KZ Sachsenhausen (Workshop Geschichte)

M Pukrop 1
  • 1privat, Osterholz-Scharmbeck

Einleitung/Hintergrund: Neben dem Kollektivinteresse an medizinischem Fortschritt verbindet jeder „forschende Arzt„ individuelle Motive mit der Durchführung des Menschenversuchs (z.B. Erwerb von Erfahrungen). Diese sind durchaus legitim, so lange das Eigeninteresse nicht handlungsbestimmend wird und das Kollektivinteresse als Hauptmotiv verdrängt. Dieser Vortrag beleuchtet die Motive von SS-Ärzten, die im KZ Sachsenhausen rein privaten Motiven folgend Versuchsoperationen an Häftlingen vorgenommen hatten und stellt eine Verbindung zwischen den Versuchen und der sinkenden Qualität der ärztlichen Ausbildung im Nationalsozialismus her. Daten und Methoden: Auf der Basis zeitgenössischer Dokumente, Häftlingsberichten und Unterlagen aus Nachkriegsprozessen werden die Biografien von Ernst Frowein, Heinrich Rindfleisch und Rudolf Horstmann, ihre chirurgischen Versuche, das den Ärzten vermittelte Bild des heroischen Frontchirurgen sowie die sinkende Qualität der ärztlichen Ausbildung skizziert. Ergebnisse: Während Horstmann in Abwesenheit des Lagerchirurgen offenbar „nur„ einmal operieren wollte, ging es Frowein und Rindfleisch um eine zielgerichtete Vorbereitung auf eine chirurgische Facharztausbildung, von der Rindfleisch noch nach 1945 profitieren konnte. Die genannten Ärzte waren noch sehr jung, als sie zur Waffen-SS eingezogen und dann als Lagerarzt tätig wurden. Sie hatten ihr Studium während des Krieges beendet und kurz danach die Approbation erhalten. Zeit für den Erwerb fundierter Praxiserfahrungen unter der Anleitung älterer Kollegen hatten sie nicht. Hinzu kam der Qualitätsverlust der Ausbildung, an deren Ende die Universitäten zu „Durchlauferhitzern für die Front„ wurden. Zugleich hatten die jungen Ärzte KZ-Häftlinge als gefährliche „Staatsfeinde„, den Chirurgen hingegen als „König der Medizin„ vermittelt bekommen. Als Folge hatten viele junge SS-Ärzte „ein krankhaftes Verlangen nach Chirurgie, wenngleich sie hierzu überhaupt keine Voraussetzungen mitbrachten„. Diskussion/Schlussfolgerungen: Obwohl Studien über die „privaten„ Medizinversuche und die durchführenden SS-Ärzte fehlen, darf angenommen werden, dass nach 1945 viele unwissentlich von diesen privaten Versuchen profitierten. So galt Rindfleisch nach 1945 als ausgezeichneter Chirurg, der bis zu seinem Tod eine erfolgreiche Praxis betrieb.

Literatur:

Marco Pukrop: Dr. med. Heinrich Rindfleisch. Eine Lagerarztkarriere im KZ Majdanek, in: Wojciech Lenarczyk u.a. (Hrsg.): KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihrer Erinnerung, Berlin 2007, S. 33–51. Hendrik van den Bussche: Im Dienste der „Volksgemeinschaft„. Studienreform im Nationalsozialismus am Beispiel der ärztlichen Ausbildung, Berlin/Hamburg 1989. Hans Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, dritte, erweiterte, deutschsprachige Ausgabe, Wien/Linz 1995.