Gesundheitswesen 2011; 73 - A48
DOI: 10.1055/s-0031-1283656

Komplementäre und alternative Heilverfahren im niedergelassenen Bereich: Ausmaß und Spektrum des ärztlichen Angebots

M Thanner 1, J Loss 2, E Nagel 1
  • 1Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Bayreuth
  • 2Institut für Epidemiologie u. Präventivmedizin, Regensburg

Einleitung/Hintergrund: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit komplementären und alternativen Heilverfahren (CAM) konzentriert sich im Wesentlichen auf die Frage nach ihrer Wirksamkeit gemäß der evidenzbasierten Medizin. Aus gesundheitsökonomischer Sicht erscheint jedoch auch die Beschreibung von Ausmaß und Spektrum des ärztlichen CAM-Angebots relevant, insbesondere vor dem Hintergrund eines wachsenden Marktes an individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL). Daten und Methoden: Zunächst wurden semistandardisierte Interviews mit 17 niedergelassenen Ärzten (v.a. Allgemeinmedizinern) geführt. Auf Grundlage dieser Ergebnisse entstand ein standardisierter Fragebogen, der einer schriftlichen Befragung von Vertragsärzten aller Fachrichtungen diente. Es wurden deutschlandweit 2396 Fragebögen verschickt. 553 Fragebögen gingen in die Auswertung ein. Ergebnisse: Von den befragten Ärzten (n=553) wenden mehr als die Hälfte (63%) CAM im Rahmen ihrer Praxistätigkeit an. Ärzte, die CAM im Praxisportfolio haben (n=350), bieten meist Akupunktur/Traditionelle Chinesische Medizin (64%), Phytotherapie/Tees (53%) oder Homöopathie (51%) an. Orthopäden bilden unter den befragten Ärzten (n=553) diejenige Facharztgruppe, die CAM am häufigsten (90%) einsetzt. Die Untersuchung zeigte, dass mehr Ärztinnen (72%) als Ärzte (56%) CAM anbieten (p=0,001). Fast drei Viertel der befragten Ärzte mit CAM-Angebot haben sich diesbezügliche Kenntnisse erst nach der Niederlassung angeeignet, dagegen nur knapp 15% während des Medizinstudiums. 50% der befragten CAM-Anbieter erbringen CAM als IGeL, 40% jedoch auch gänzlich ohne Vergütung. Diskussion/Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse legen nahe, dass CAM in Deutschland ein fester Bestandteil des ambulanten ärztlichen Angebots sind. Allerdings relativiert sich der Befund, da Akupunktur und Phytotherapie als am häufigsten verwendete Verfahren identifiziert wurden; also Therapieansätze, die zumindest teilweise auch der Schulmedizin zugerechnet werden. Für die ausgesprochene Praxisrelevanz spricht, dass sich die Befragten CAM-Kenntnisse überwiegend erst nach der Niederlassung angeeignet haben. Eine undifferenzierte Verwendung des Ausdrucks „Markt für CAM„ verschleiert, dass diese Leistungen von niedergelassenen Ärzten bei bestehender Nachfrage teilweise gänzlich ohne Vergütung erbracht werden. Aufgrund der Rücklaufquote von lediglich 23 Prozent ist es möglich, dass die Häufigkeit des CAM-Angebots überschätzt wird.