Pneumologie 2012; 66(07): 416-422
DOI: 10.1055/s-0031-1291651
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Epidemiologie der Tuberkulose[*]

von Robert Koch Vortrag, gehalten in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 7. April 1910Epidemiology of TuberculosisBy Robert Koch – Lecture Held during the Session of the Berlin Academy of Science on April 7, 1910
R. Kropp
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Publication Date:
19 March 2012 (online)

Bei den Untersuchungen über das epidemiologische Verhalten der Tuberkulose haben sich einige interessante und auch praktisch wichtige Tatsachen herausgestellt, über welche berichtet werden soll.

Zuvor einige Bemerkungen über die Art der Untersuchungen, welche im wesentlichen statistische sind. Wollte man dieselben auf das ganze Gebiet der Tuberkulose ausdehnen, dann würde man auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen.

Die Tuberkulose, welche bekanntlich unter sehr verschiedenen Formen auftritt, kommt in sehr geringfügigen, auch latenten Formen so häufig vor, daß sich in bezug hierauf gar keine scharfen Grenzen gegenüber den gesunden Personen ziehen lassen. Man muß sich deswegen auf diejenige Form der Tuberkulose beschränken, welche genügend scharf abzugrenzen und auch sicher zu diagnostizieren ist. Diesen Bedingungen entspricht am besten die Lungentuberkulose, die sogenannte Lungenschwindsucht. Diese Form empfiehlt sich für derartige Untersuchungen auch aus dem Grunde, weil sie die bei weitem häufigste ist, und weil sie die für die Weiterverbreitung der Tuberkulose fast ausschließlich in Frage kommende, also für die Praxis bedeutungsvollste ist.

Wir müssen nun aber noch eine weitere Einschränkung machen, indem wir die Morbiditätsstatistik der Lungenschwindsucht, welche wegen der langen Dauer der Krankheit und der Schwierigkeit, ihren Beginn festzustellen, ebenfalls keine scharfe Abgrenzung zuläßt, beiseite lassen und nur die Mortalitätsstatistik berücksichtigen. Wenn wir dies tun, dann bekommen wir ein einigermaßen zuverlässiges Urmaterial, das den Untersuchungen zugrunde gelegt werden kann.

Ganz zuverlässig würde es allerdings nur dann sein, wenn bei jedem Todesfall infolge von Lungenschwindsucht durch einen Sachverständigen die Obduktion gemacht und auf Grund derselben die Diagnose gestellt würde. Das ist nun aber keineswegs der Fall. Obduktionen werden nur bei einem Bruchteil der Fälle gemacht, und es bleibt somit eine gewisse Unsicherheit bestehen. Dazu kommt noch, daß in manchen Gegenden, selbst in ganzen Ländern aus naheliegenden Gründen eine gewisse Scheu besteht, die Diagnose Lungenschwindsucht auszusprechen, an deren Stelle chronischer Lungenkatarrh und ähnliches als Todesursache angegeben wird. Es ist deswegen nicht immer angängig, die Sterbeziffern von Lungenschwindsucht verschiedener Länder ohne weiteres miteinander zu vergleichen, und es ist zu vermuten, daß in manchen Fällen auffallende Unterschiede durch derartige Verhältnisse bedingt sind. Diese Fehlerquelle spielt aber dann keine wesentliche Rolle, wenn es sich um Beobachtungen über Zu- oder Abnahme der Mortalität in demselben Lande oder in der gleichen Stadt handelt.

Andererseits ist aber gerade die Lungenschwindsucht ein für statistische Untersuchungen dankbares Objekt, weil die Diagnose derselben wegen der überaus charakteristischen Symptome auch vom Laien mit ziemlicher Sicherheit gestellt werden kann, so daß für manche Fragen, wo es nicht gerade auf absolute Genauigkeit ankommt, auch Angaben verwertet werden können, welche sich nicht auf ärztliche Untersuchungen und Obduktionen stützen.

Wenn wir nun also den Untersuchungen über das epidemiologische Verhalten der Tuberkulose die statistischen Angaben über Schwindsuchtssterblichkeit zugrunde legen, so sei vorweg bemerkt, daß wir der Krankheit schon in den ältesten Berichten begegnen.

In den Schriften des  H i p p o k r a t e s  ist eine sehr charakteristische Schilderung der Lungenschwindsucht gegeben, und man kann daraus mit Sicherheit schließen, daß den damaligen Ärzten das Krankheitsbild der Lungentuberkulose ganz geläufig war. Es wird an verschiedenen Stellen gesagt, daß zahlreiche Menschen davon ergriffen seien[2]. Man muß also annehmen, daß die Phthisis schon damals eine ähnliche Rolle spielte, wie in späteren Zeiten.

Die ersten zahlenmäßigen Angaben treffen wir aber erst viel später, und zwar beziehen sich dieselben auf Schweden, wo sie durch die Geistlichen gesammelt wurden.

Wir lernen aus denselben auch die höchsten Zahlen kennen, welche die Phthisissterblichkeit nach den bisherigen Erfahrungen erreichen kann ( [Taf. 1]). Um die Mitte des 18. Jahrhunderts betrug die Mortalität in Schweden auf dem Lande 21,5 auf 10 000 Lebende; sie stieg sehr langsam bis auf 27,7 gegen 1830.

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Erheblich höhere Zahlen bietet aber die Hauptstadt des Landes, und es entspricht dieses der gewöhnlichen Annahme, daß die Städte wegen der gedrängten Bauart und wegen der damit verbundenen schlechten Wohnungsverhältnisse und ferner wegen der geringeren Widerstandsfähigkeit ihrer Bewohner in bezug auf Tuberkulose ungünstiger gestellt sind als das offene Land. Stockholm hatte um 1750 die Sterbeziffer 73,2, welche bis 1830 auf 93,1 anstieg, also nahezu 100 auf 10 000 Lebende oder 1 % erreichte.

Das Ansteigen der Phthisismortalität in Stockholm soll nach der Meinung der schwedischen Ärzte durch den Alkoholmißbrauch verursacht sein. Der Ziffer I00 0/000 begegnet man nun überall da, wo man annehmen kann, daß die ungünstigsten sanitären Verhältnisse bestehen; so z. B. in den Gefängnissen, wenigstens in früheren Zeiten; ferner unter den im Aussterben begriffenen Indianerstämmen Nordamerikas, bei denen auch der Alkohol als Hauptursache wirkt. Nach den übereinstimmenden Angaben verschiedener Reisender sollen die Bewohner von Grönland, welche durch das nordische Klima gezwungen werden, in ihren Hütten eng zusammengedrängt zu leben, wodurch die Ansteckung sehr begünstigt wird, in ganz außergewöhnlicher Weise an Lungenschwindsucht leiden; sie erreichen anscheinend eine noch höhere Ziffer als 100 auf 10 000 Lebende.

Mortalitätsziffern, welche sich um 50 auf 10 000 Lebende bewegen, trifft man noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ziemlich oft, besonders in Städten. Ich führe als Beispiele unter den deutschen Städten an: Düsseldorf mit 55, Elberfeld 59, Osnabrück 52, Köln 50 ½, München 50. Besonders hohe Zahlen finden sich in Österreich-Ungarn, wo für Budapest 50, Preßburg 58, Fiume 66, Wien 72 angegeben werden.

Es folgen dann alle Übergänge bis herab zum vollständigen Fehlen. In einzelnen Gebieten, so in Zentralafrika, fehlt die Tuberkulose noch vollkommen bis auf ganz vereinzelte Fälle, deren Beziehungen zu europäischen Tuberkulosekranken oder zu den Küsten sich noch leicht feststellen lassen. Etwa 7 Todesfälle an Schwindsucht auf 10 000 Lebende, das ist zurzeit die unterste Grenze, welche für einige Bezirke in Australien gilt. Aber auch bei uns gibt es Kreise, welche fast diese Grenze erreichen, z. B. der Kreis Osterode im Regierungsbezirk Allenstein.

So niedrige Mortalitätsziffern sind aber erst in den letzten Jahren beobachtet, und das führt mich auf eine der merkwürdigsten Erscheinungen in dem epidemiologischen Verhalten der Tuberkulose, auf welche ich Ihre Aufmerksamkeit ganz besonders lenken möchte, das ist nämlich die fast überall eingetretene bedeutende Abnahme der Lungenschwindsucht, welche sich seit etwa 30 bis 40 Jahren bemerkbar macht.

Zuerst zeigte sich das Absinken der Mortalitätsziffer in England, und so ist es gekommen, daß der englische Hygieniker  F a r r der erste war, dem dies auffiel und der darauf aufmerksam gemacht hat. Bei uns hat  H i r s c h, der Verfasser des bekannten Handbuches der historisch-geographischen Pathologie, zuerst darauf hingewiesen.

Zunächst verhielt man sich dieser merkwürdigen Erscheinung gegenüber sehr skeptisch und nahm an, daß Fehler in der Statistik untergelaufen seien, oder daß es sich um vorübergehende Schwankungen der Mortalität handele, wie man sie schon früher, wenn auch nicht in solchem Umfange beobachtet hatte. Als dann aber die Abnahme der Lungenschwindsucht fast überall konstatiert wurde und auch anhielt, da blieb nichts anderes übrig, als sich damit als mit einer Tatsache abzufinden und zu versuchen, eine Erklärung dafür zu finden.

Um eine Vorstellung von der Abnahme der Schwindsucht zu geben, möge als besonders charakteristisches Beispiel das Verhalten der Schwindsuchtssterblichkeit im Königreich Preußen dienen.

Dieselbe ist in einer Kurve dargestellt ([Taf.  2]). Bis zum Jahre 1886 hielt sich die Mortalitätsziffer mit unregelmäßigen, aber nicht erheblichen Schwankungen ein wenig oberhalb 30; dann tritt die Abnahme ein, welche bis jetzt fast gleichmäßig angehalten hat. Bis zum Jahre 1908 ist die Zahl bis 16,24, also nahezu um 50 % gesunken.

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Für das Deutsche Reich gehen die statistischen Aufzeichnungen nicht so weit zurück, daß die Schwindsuchtsabnahme in gleicher Weise zu demonstrieren wäre. Die Kurve für Gesamtdeutschland ist aber, soweit sie reicht, der preußischen sehr ähnlich; sie liegt etwas höher, weil die süddeutschen Staaten nicht so günstige Schwindsuchtsverhältnisse haben wie Preußen.

Welche Bedeutung diese Abnahme der Schwindsucht hat, ist daraus zu ersehen, daß im Deutschen Reiche, wenn dieselben Verhältnisse wie vor 30 Jahren bestehen würden, jetzt jährlich ungefähr 100 000 Menschen an Schwindsucht mehr sterben würden, als es tatsächlich der Fall ist. Wir haben also allen Grund, die Ursachen für die Abnahme der Schwindsucht zu ermitteln, um zu sehen, ob dieselben einer Beeinflussung von unserer Seite zugänglich sind, und ob es möglich sein wird, wenn die Abnahme etwa ins Stocken gerät, die Hindernisse zu beseitigen und womöglich auch ihren jetzigen Gang noch zu beschleunigen.

Es fragt sich also, welches die Ursache oder vielmehr die Ursachen der Abnahme sind, da wohl kaum anzunehmen ist, daß ein einziger Faktor dabei tätig ist.

Man könnte zunächst daran denken, daß die Schwindsuchtssterblichkeit sinkt, weil die allgemeine Sterblichkeit, wie bekannt, auch im Abnehmen begriffen ist. Notwendig würde dies nicht sein, sondern nur dann eintreten, wenn die Ursachen, welche die Gesamtmortalität beeinflussen, auch auf die Lungenschwindsucht wirken. Nun sehen wir aber, daß die Abnahme der letzteren erheblich schneller stattfindet als diejenige der allgemeinen Mortalität, und daß vielmehr diese zu einem großen Teil durch die Abnahme der Lungenschwindsucht bedingt wird. Also muß die Lungenschwindsucht von Faktoren beeinflußt werden, welche ihr eigentümlich sind.

Dann könnte es aber auch als möglich erscheinen, daß die Abnahme der Tuberkulose in dem allgemeinen epidemiologischen Verhalten dieser Krankheit begründet sei, daß die Seuche an und für sich, ebenso wie andere Seuchen, z. B. Pest und Cholera, nach einem gewissen Zeitraum des Bestehens abnehmen müsse.

Wenn es sich so verhielte, dann müßte die Schwindsuchtsabnahme überall in gleichmäßiger Weise von statten gehen. Das ist nun aber keineswegs der Fall. In den meisten Ländern geht die Kurve allerdings abwärts, aber es gibt doch auch solche, in denen sie im Ansteigen begriffen ist. So sieht man auf der Zusammenstellung in  [Taf. 3], daß England und Schottland, ebenso der amerikanische Staat Massachusetts (gewählt, weil seine Statistik weit genug zurückreicht) eine abnehmende Schwindsuchtssterblichkeit haben, während dieselbe in Irland, Norwegen und Japan im Zunehmen begriffen ist. Dieselbe Erscheinung treffen wir auch bei einigen Städten; so haben London, Kopenhagen, Hamburg absteigende Kurven, Paris dagegen hat eine verhältnismäßig hochliegende Kurve, die wenig Neigung zum Abnehmen zeigt ([Taf. 4]).

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Überhaupt hat Frankreich keine günstige Schwindsuchtsmortalität. In Städten mit mehr als 5000 Einwohnern, von welchen allein die Statistik zur Verfügung steht, sterben 27 auf 10 000 Einwohner, und es hat in den Jahren 1901 bis 1906 (soweit sind die Zahlen veröffentlicht) keine Abnahme stattgefunden.

Sehr charakteristische Beispiele für eine günstige Gestaltung der Schwindsuchtsmortalität liefern Hamburg (s. [Taf. 5]) und Boston (s. [Taf. 6]).

Hamburg verlor vor 1860 37 auf 10000 Einwohner an Schwindsucht, 1880 waren es noch 33,5. Im Jahre 1907 ist die Verlustzahl bis auf 13,7 heruntergegangen.

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Boston hatte bis 1886 eine Schwindsuchtsmortalität von ungefähr 40,0 und 1907 von 18,5.

Diese Zahlen treten noch mehr hervor, wenn man sie mit denjenigen von Städten vergleicht, welche mit Hamburg und Boston sich unter ähnlichen Verhältnissen befinden. Wir wollen zu diesem Zwecke Hamburg mit Berlin ([Taf. 7]) und Boston mit New York (s.  [Taf. 8]). vergleichen.

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An den betreffenden Mortalitätskurven von Hamburg und Boston fällt sofort auf, wie dieselben gleichmäßig sinken, während in New York und ganz besonders in Berlin die Abnahme seit mehreren Jahren nachgelassen hat.

Von einem überall gleichmäßigen Absinken der Schwindsuchtsmortalität kann, wie die angeführten Beispiele, deren Zahl sich leicht vermehren ließe, lehren, nicht die Rede sein, und wir müssen daher nach anderen Faktoren als einer spontanen, im epidemiologischen Gange der Tuberkulose liegenden Ursache der Abnahme suchen.

Man könnte daran denken, daß die Virulenz der Tuberkulose nachgelassen habe. Gegen diesen Erklärungsversuch spricht aber zunächst der Umstand, daß die Abnahme der Tuberkulose ganz plötzlich eingesetzt hat und in wenigen Jahrzehnten vielfach 50 % und darüber hinaus erreicht hat. Nachdem die Mortalität der Schwindsucht mehr als 2000 Jahre hindurch eine erhebliche und vielfach eine langsam ansteigende gewesen ist, wird doch darin nicht mit einem Male und ohne irgendwelchen merkbaren Grund eine Änderung eintreten. Außerdem müßte sich die Abnahme der Virulenz doch, zunächst dadurch bemerkbar machen, daß die einzelnen Fälle von Lungenschwindsucht leichter verliefen und häufiger zur Heilung kommen. Davon ist aber nichts zu bemerken. Es ist allerdings richtig, daß die Behandlung der Tuberkulose in der Neuzeit große Fortschritte gemacht hat, und daß es gelingt, durch die sogenannte hygienisch-diätetische und ganz besonders durch die spezifische Behandlung der Tuberkulose viele Fälle zur Heilung zu bringen. Aber dieses Vorteils wird zurzeit doch nur ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz der Tuberkulösen teilhaftig, und man kann sich leider bei den nicht so behandelten Fällen immer wieder davon überzeugen, daß die Lungentuberkulose noch immer denselben mörderischen Charakter hat wie früher. Außerdem hatte die Schwindsuchtsabnahme schon eine Reihe von Jahren angedauert, ehe die neuen Behandlungsmethoden einen einigermaßen beachtenswerten Umfang angenommen hatten.

Von mehreren Seiten ist die Schwindsuchtsabnahme mit der Entdeckung des Tuberkelbazillus in Zusammenhang gebracht. Man hat gesagt, daß dadurch der ansteckende Charakter der Schwindsucht bewiesen wurde, und daß die Menschen infolgedessen vorsichtiger wurden und der Ansteckung möglichst aus dem Wege gingen, während bis dahin die Ärzte von der Ansteckungsfähigkeit der Schwindsucht nichts wissen wollten, und das große Publikum ihnen hierin selbstverständlich folgte.

Diese Behauptung hat gewiß manches für sich. Auf jeden Fall ist es im höchsten Grade auffällig, daß mit wenigen Ausnahmen die Schwindsuchtsabnahme überall nur wenige Jahre nach jener Entdeckung eingesetzt hat. Aber gerade diese Ausnahmen beweisen, daß die neu entstandene Furcht vor der Ansteckungsgefahr nicht der einzige Faktor ist, welcher hier in Frage kommt, wenn wir ihm auch einen gewissen und nicht geringen Einfluß zubilligen müssen.

Bei deutschen Autoren begegnet man häufig der Ansicht, daß die soziale Gesetzgebung, namentlich die Krankenversicherung, die Abnahme der Tuberkulose bewirkt habe. Bis zu einem gewissen Grade ist das namentlich mit Rücksicht auf das zeitliche Zusammentreffen in Deutschland unbestreitbar der Fall; da aber in den meisten übrigen Ländern, wo derartige Gesetze noch nicht eingeführt sind, die Abnahme zur selben Zeit und ebenso weit stattgefunden hat, so kann jene Gesetzgebung auch bei uns nicht der ausschlaggebende Grund gewesen sein.

Es würde zu weit führen, wenn ich hier alle bis jetzt unternommenen Erklärungsversuche aufzählen und besprechen wollte. Ich werde mich daher sofort denjenigen Untersuchungen über diese Frage zuwenden, welche nach meiner Ansicht die größte Beachtung verdienen. Diese Untersuchungen wurden durch die auffallende Tatsache veranlaßt, daß sich die Tuberkulosesterblichkeit in den drei zu Großbritannien gehörigen Ländern ganz verschieden verhält. In England und Schottland nimmt sie ab, in Irland nimmt sie dagegen wenn auch nur langsam, aber doch deutlich zu. Dafür die Ursache aufzufinden, hat der bekannte Medizinalstatistiker  N e w s h o l m e  sich bemüht. Mit der größten Gründlichkeit hat er alle dabei in Frage kommenden Faktoren untersucht, hauptsächlich Wohnung, Nahrung, Lohnverhältnisse, Krankenfürsorge, Auswanderung und er ist schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß für Irland die Art-und Weise der Krankenfürsorge den ausschlaggebenden Faktor bildet. Während in England und Schottland die der Armenpflege anheimfallenden Phthisiker geschlossenen Anstalten überwiesen werden, erhalten sie in Irland ihre Unterstützung, ohne dadurch verpflichtet zu werden, daß sie sich in eine Anstalt begeben; sie bleiben also in ihrer Behausung und bewirken andauernd in ihrer Umgebung Ansteckung.  N e w s h o l m e  versucht auch den Nachweis zu führen, daß auch in Norwegen die Schwindsuchtssterblichkeit im Zunehmen begriffen ist, weil nicht ausreichend für die Unterkunft der Phthisiker in Krankenanstalten gesorgt ist. Ich möchte hierzu bemerken, daß man diesen Mangel in Norwegen bereits erkannt hat und bemüht ist, demselben durch Begründung von Spezialkrankenanstalten für Schwindsüchtige abzuhelfen. Es scheint so, als ob in den allerletzten Jahren infolgedessen die Mortalitätskurve nicht mehr ansteigt.  N e w s h o l m e  weist ferner auf die auffallend hohe Schwindsuchtssterblichkeit von Paris hin und begründet dieselbe durch die ungenügenden Krankenhausverhältnisse, infolge deren der Aufenthalt der Kranken in denselben zu kurz ist, um einen merklichen Einfluß auf die Verhütung der Ansteckung ausüben zu können.

In bezug darauf, daß eine möglichst ausgiebige und langdauernde Überweisung der Schwindsüchtigen an die Krankenanstalten das wirksamste Mittel ist, um die Ansteckung und damit die Ausbreitung der Schwindsucht zu verhüten, möchte ich  N e w s h o l m e  vollständig beipflichten. Auch nach meinen Erfahrungen hat überall da, wo für die Unterbringung der Schwindsüchtigen in Krankenhäusern in ausreichendem Maße gesorgt ist, die Schwindsucht am meisten abgenommen und umgekehrt. Es liegt ja auch auf der Hand, daß auf keine andere Weise die Ansteckungsgefahr, welche von einem Phthisiker ausgeht, so gründlich beseitigt wird als durch die Isolierung im Krankenhause. Einen schlagenden Beweis dafür liefert übrigens die Lepra, bei welcher es gelungen ist, nach demselben Prinzip die Seuche mit gutem Erfolg zu bekämpfen.

Außer diesem Faktor spielt aber noch ein zweiter eine sehr wichtige Rolle. Es ist dies die Wohnung. Je beengter dieselbe ist, je mehr es ihr an Licht und Luft fehlt, um so mehr wird durch dieselbe die Ansteckung begünstigt. Von vielen Autoren wird der Armut und der Bevölkerungsdichtigkeit ein entscheidender Einfluß auf die Phthisisfrequenz zugeschrieben, und es geschieht dies mit Recht; aber in Wirklichkeit sind es die mangelhaften und zu beengten Wohnungen, in welche durch die Armut und durch die Zunahme der Bevölkerungsdichtigkeit die Menschen getrieben werden. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und den Satz aufstellen, daß es nicht so sehr die Wohnungen im ganzen, sondern die Beschaffenheit des Schlafraumes ist, welche die Gefahr der Ansteckung schafft. Selbst in einer geräumigen und an und für sich gesunden Wohnung kann die Ansteckungsgefahr eine sehr große werden dadurch, daß die Bewohner bei Nacht dicht zusammengedrängt in einem engen Schlafraum zubringen. Es ist gewiß kein Zufall, daß die höchsten Sterblichkeitsziffern für Schwindsucht bei uns nicht in den ärmsten Gegenden der östlichen Provinzen, sondern in den relativ wohlhabenden und weitläufig bebauten Gegenden der Nordseeküste sich finden, wo seit alters her die üble Gewohnheit besteht, daß als Schlafraum schrankähnliche, in die Wand gebaute Behälter, sogenannte Butzen, dienen, welche nachts geschlossen werden, und daß in den nördlichen Gegenden Schwedens mit einem notorisch recht gesunden Klima die höchsten Schwindsuchtsziffern da vorkommen, wo die Leute ebenfalls in Wandschränken schlafen, welche den friesischen Butzen ganz konform sind.

Die auffallende Tatsache, daß bei uns vielfach die Städte eine geringere Schwindsuchtssterblichkeit haben als das benachbarte Land, ist offenbar zum Teil auf den Mangel an Krankenanstalten, zum Teil aber auch auf die schlechte Gewohnheit der Landbewohner zurückzuführen, daß sie, auch wenn ihnen mehrere Wohnräume zur Verfügung stehen, den schlechtesten und engsten zum Schlafraum machen. Als Beispiel für jene Unterschiede mag eine Zusammenstellung für einige preußische Regierungsbezirke nach Stadt und Land getrennt dienen ([Taf. 9]).

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Aber auch in den Städten ist es mit den Wohnungsverhältnissen noch mangelhaft bestellt. Die Zahl der Wohnungen, welche aus einem einzigen Raum bestehen, in dem oft kinderreiche Familien wohnen, kochen und schlafen, oft in einem einzigen Bett, sind noch recht zahlreich. Nach  R u b n e r  sind in Hamburg, Berlin, Breslau 10 bis 14 % Wohnungen übermäßig belegt, wenn man die Bewohnung eines einfenstrigen Zimmers durch mehr als 5 Personen als überfüllt bezeichnet.

K a y s e r l i n g  hat berechnet, daß von den in ihren Wohnungen verstorbenen Phthisikern 40,6 % Einzimmerwohnungen, 41,7 % Zweizimmerwohnungen besaßen; daß in Berlin im Laufe von 3 Jahren 8229 Personen allein durch die in einzimmerigen Wohnungen sterbenden Schwindsüchtigen der höchsten Ansteckungsgefahr ausgesetzt wurden. Bekanntlich sind die Schwindsüchtigen im letzten Stadium, wo sie hilflos sind und reichlich tuberkelbazillenhaltiges Sputum auswerfen, ganz besonders ansteckend.

Wenn wir daran festhalten, daß der wirksamste Schutz gegen Ansteckung die Isolierung der Schwindsüchtigen in Krankenanstalten ist, aber dann weiter bedenken, daß die Zahl derjenigen erwachsenen Personen, für welche wegen ihres tuberkulösen Leidens eine Krankenhausbehandlung notwendig wäre, im Deutschen Reiche auf mindestens 150 000 bis 200 000 jährlich geschätzt wird, und daß es ganz unmöglich ist, diese alle in Krankenanstalten unterzubringen, so wird nichts anderes übrig bleiben, als dieselben zum großen Teil in ihren Wohnungen zu isolieren. Dies würde sich auch einigermaßen ausführen lassen, wenn man dem Kranken einen besonderen Schlafraum überlassen könnte. Aber wie soll das ermöglicht werden, wenn die Wohnung überhaupt nur aus einem Raum besteht?

Diese Betrachtungen zeigen, daß die Abnahme der Schwindsucht in neuerer Zeit durch verschiedene Faktoren bedingt wird, von denen die beiden wichtigsten die Krankenfürsorge mit Isolierung der Phthisiker in Krankenanstalten und die Verbesserung der Wohnungsverhältnisse, insbesondere des Schlafraumes sind.

Es geht daraus hervor, welche ungeheuren Hindernisse noch überwunden werden müssen, ehe es gelingen wird, die Schwindsuchtsmortalität immer weiter herabzusetzen und schließlich ein Niveau zu erreichen, welches womöglich noch tiefer liegt als das niedrigste zurzeit bestehende von 7 auf 10 000 Lebende.

Zu gleicher Zeit ergibt sich aber auch der große Nutzen, welchen uns die genaue Kontrolle der Schwindsuchtssterblichkeit für Länder und Städte verschafft. Die Mortalitätskurve läßt sofort erkennen, ob die Schwindsuchtsverhältnisse ungünstig liegen, ob die Mortalität im Sinken begriffen ist, und ob die ergriffenen Maßregeln noch wirksam sind, oder ob Verbesserungen, Ergänzungen usw. anzuordnen sind. So ist für Norwegen der Verlauf seiner Schwindsuchtskurve Veranlassung gewesen, mit dem Bau von Krankenanstalten vorzugehen und damit ein Absinken der Kurve zu bewerkstelligen.

New York hat, sobald sich herausstellte, daß die Kurve anfing flacher zu verlaufen, und sich stärkere Schwankungen zeigten, ebenfalls beschlossen, die Krankenfürsorge zu verstärken und die 2500 jetzt für Schwindsüchtige zur Verfügung stehenden Betten auf 5000 zu bringen. In Berlin soll aus demselben Grunde ein Spezialkrankenhaus für Lungenschwindsüchtige mit 1000 Betten errichtet werden.

Es ist sehr zu wünschen, daß überall eine derartige genaue Kontrolle geübt wird, und daß dieselbe auf immer kleinere Bezirke ausgedehnt wird, um so tiefer in die Tuberkuloseverhältnisse einzudringen und die für die einzelnen kleineren Ortschaften und ländlichen Bezirke besonders in Frage kommenden Schädlichkeiten aufzudecken und dafür Abhilfe zu schaffen.

Bei uns ist die Statistik schon so weit entwickelt, daß es möglich ist, die einzelnen Kreise in bezug auf ihre Schwindsuchtssterblichkeit zu übersehen. Ich habe hier zwei Regierungsbezirke herausgegriffen, welche sehr anschaulich zeigen, welche interessanten Ergebnisse der Vergleich zwischen den einzelnen Kreisen liefert ([Taf. 10]).

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Für die eigentliche Tuberkulosebekämpfung wird man sogar noch weiter gehen und auch den Kreis noch in kleinere Bezirke zerlegen müssen, welche zu untersuchen und mit Fürsorgestellen oder anderweitigen Einrichtungen zur Bekämpfung der Seuche zu versehen sind.

Die Mortalitätsstatistik und die sich daran anknüpfenden epidemiologischen Untersuchungen bilden daher ein wichtiges Glied in den Maßregeln, mit welchen die Tuberkulose zu bekämpfen ist.

* Aus: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, 1910, Bd. 67. Verlag von Veit & Comp., Leipzig. (Nach dem Tode K o c h s veröffentlicht.)
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Robert-Koch-Instituts.