Der Klinikarzt 2012; 41(5): 228
DOI: 10.1055/s-0032-1316502
Zum Thema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Palliativ-, keine Isolierstation!

Winfried Hardinghaus
Further Information

Publication History

Publication Date:
04 June 2012 (online)

Die Hospiz- und Palliativversorgung hat in den letzten Jahren auch in Deutschland einen guten Aufschwung genommen. Zählen wir doch im Krankenhausbereich inzwischen über 200 Palliativstationen sowie ebenfalls nahezu 200 stationäre Hospize. Darüber hinaus ist auch die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) nach langen Verhandlungen mit den Kostenträgern dabei, sich zu etablieren. Auf der Homepage der vom Land Niedersachsen geförderten „Niedersächsischen Koordinierungs- und Beratungsstelle für Hospizarbeit und Palliativversorgung“ (http://www.info@palliativ.niedersachsen.de) registrierten wir in 2 Jahren circa 20000 Anfrage-Clicks.

Wichtiger noch als die strukturellen Fortschritte sind uns die heute in diesem Heft beschriebenen inhaltlichen Entwicklungen. So ist festzuhalten, dass die palliativmedizinische Betreuung mehr und mehr abhängig ist von den Bedürfnissen und nicht von der alleinigen Diagnose der Patienten. Bausewein schildert hierzu in ihrem Beitrag beeindruckende Indikatoren der schweren Atemwegsobstruktion (COPD), der „ausgebrannten“ chronischen Herzinsuffizienz oder der terminalen Niereninsuffizienz mit anhaltenden belastenden Symptomen unter der Dialyse.

Mit steigendem Betreuungsbedarf, also auch von sogenannten nicht onkologischen Patienten, wächst gleichzeitig die Nachfrage nach psychosozialen Interventionen, wie Neuwöhner darlegt. Schmerzen und Müdigkeit können einer gelingenden Kommunikation im Wege stehen ebenso eine mitleidige Verantwortung das Team überfordern.

Unverändert stehen bei der Versorgung, Behandlung und Begleitung von Palliativpatienten Schmerzlinderung, Symptomenkontrolle, Behandlung von Luftnot, Übelkeit und Obstipation an erster Stelle – auch im vorliegenden Heft. Aus praktischer Erfahrung fasst Beck hierzu für Sie alles Wichtige und Aktuelle ganz anwendungsbezogen zusammen.

Nicht nur Patienten, Angehörige und Betreuer arbeiten in der Palliativversorgung auf Augenhöhe miteinander, sondern auch das Team untereinander. So sind uns Ärzten die wichtigen Beobachtungen und Anregungen aus der Pflege, die hier beispielhaft von Nestler und Osterbrink vorgestellt werden, mehr als willkommen. Die Pflege bietet ihre Kompetenz längst auch akademisch an, z. B. im Rahmen der Initiativen der Certkom-Gesellschaft für qualifizierte Schmerztherapie e.V. oder des Projektes „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“.

Vergessen wir schließlich nicht den Betroffenen selbst, seine inneren Bedürfnisse, seine Würde, seinen Willen. In einer schönen Übersicht stellt Schorz hier die Facette eines vorausverfügten Willens in den Kontext des Grundgedanken eines Heilauftrages.

Eine von unserer Initiative „SPES VIVA“ aktualisierte Patientenverfügung (s. Seite 217 , kann kostenlos angefordert werden) schließt die rechtliche Möglichkeit ein, die Begrenzung der Reichweite einer Verfügung auf den beginnenden Sterbeprozess, aufzuheben. Aber – das mag aus Sicht von Betroffenen zunächst krass erscheinen – die Selbstbestimmung des Patienten ersetzt nicht auch das ethische Urteil des Behandelnden. So ist z. B. zu fragen, ob der Patient bei der Abfassung seiner Patientenverfügung sich wirklich darüber im Klaren ist, dass manche Situationen, z. B. eine Hirnblutung, durchaus folgenlos ausheilen kann. Ganz anders kann sich eine palliativmedizinische „Notfallsituation“ z. B. im Pflegeheim darstellen.

Der Prozess der Willensbildung ist also grundsätzlich nicht statisch. So kann sich die Lebenssituation ändern, auch die persönliche Entwicklung und die Erfahrungen, wenn sich die Lebenssituation verändert, neue Sichtweisen erschließen, z. B. wenn im sozialen Umfeld Umbrüche stattfinden. Auch eine Sorge, anderen (insbesondere den eigenen Angehörigen) nicht zur Last fallen zu wollen, kann ein stiller Beweggrund hinter dem Wunsch sein, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten.

Unstreitig steckt hinter alledem auch unsere große Sorge, im Falle einer schweren Erkrankung im Sterbeprozess einsam und verlassen zu sein. Die Arbeiten des vorliegenden Heftes können hier eindrucksvoll und auf tröstliche Weise diese Befürchtung abmildern. Sie zeigen, dass eine palliative Therapie und Pflege, auch wenn sie sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, nicht zwangsläufig mit sozialer Isolation einhergehen muss.

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, andere Erfahrungen haben, eine andere Meinung vertreten oder uns bestärken wollen, tun Sie das gerne und schreiben uns.