Dtsch Med Wochenschr 2012; 137 - A13
DOI: 10.1055/s-0032-1323176

Qualitative Methoden in der Rehabilitationsforschung. Eine Untersuchung von Entscheidungsheuristiken bei sozialmedizinischen Begutachtungen im Rentenantragsverfahren mittels der Think Aloud Methode

S Bartel 1, H Ohlbrecht 1, E Kardorff 1, D Tegethoff 1
  • 1Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Rehabilitationswissenschaften, Abteilung für Rehabilitationssoziologie, berufliche Rehabilitation, Rehabilitationsrecht, Berlin

Gegenstand des von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) geförderten Forschungsprojektes war die Analyse der Entscheidungsheuristiken bei ärztlichen Entscheidungen nach Aktenlage im Rentenantragsverfahren für Erwerbsminderungsrenten. Über die konkrete Praxis von Zuweisungsentscheidungen und sozialmedizinische Begutachtungen, die insbesondere für Betroffene wie für den Kostenträger weitreichende Entscheidungen darstellen ist wissenschaftlich allerdings bislang wenig bekannt (DRV 2007; Legner und Cibis 2007; VDR 2004) und war Gegenstand des vorgestellten Projektvorhabens. Ziel war es, latente Muster, Kriterien und Einflussfaktoren der Entscheidung zu identifizieren und in einen Kontext individueller, professionsspezifischer, organisationsbedingter und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu stellen. Die Datenerhebung und -auswertung erfolgte triangulativ mittels unterschiedlicher Methoden der qualitativen Sozialforschung: Aktenanalyse (N=130), Leitfadeninterviews mit Experten der Leitungsebene (N=6) und Prüfärzten (N=19) und die Think-Aloud-Methode (Ericsson und Simon 1993) (N=80) mit deren Hilfe der Entscheidungsprozess sequenziell rekonstruiert wurde. Die Think Aloud Methode erwies sich im Rahmen der Studie neben Experteninterviews, qualitativen Interviews und Aktenanalyse als zentrales und erkenntnisgenerierendes Verfahren, um wesentliche Entscheidungsheuristiken zu identifizieren. Während durch Interviews vor allem die Bedeutungsebene der Legitimation von Entscheidungen erhoben werden konnte, zeigte sich im Think Aloud Verfahren die konkrete Handlungsebene. So ergab die Auswertung der Think Aloud Protokolle, dass neben den medizinischen Gründen, die eine Entscheidung in erster Linie motivieren, auch organisationsbezogene und verfahrensbezogene Heuristiken jeweils eine bedeutsame Rolle spielen. Dieser Forschungsansatz kann einen entscheidenden Beitrag in der Rehabilitationsforschung leisten, um Entscheidungsprozesse rekonstruktiv erforschen zu können.

Literatur: Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2007): Abschlussbericht der Projektgruppe "Qualitätssicherung der sozialmedizinischen Begutachtung " (PGQSBEGUT). Berlin, DRV.

Ericsson, K.; Simon, H. (1993): Protocol Analysis: Verbal Reports as Data, Cambridge 1993

Legner, R., Cibis, W. (2007): Qualitätssicherung in der sozialmedizinischen Begutachtung. In: Rehabilitation 46(1): 57 - 61.

Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (2004): Abschlussbericht der Kommission zur Weiterentwicklung der Sozialmedizin in der gesetzlichen Rentenversicherung - SOMEKO, DRV-Schriften, Bd 53.