Dtsch Med Wochenschr 2012; 137 - A329
DOI: 10.1055/s-0032-1323492

Soziale Gerechtigkeit und (Mund-)gesundheit

H Strippel 1
  • 1Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS), Essen

Gesellschaftliche Wertvorstellungen definieren soziale Gerechtigkeit. Aktuelle Gerechtigkeitstheorien überwinden das politische Rechts-Links-Schema. Sie schlagen eine Brücke zwischen einer an „Markteffizienz“ orientierten, liberalen Verfahrensgerechtigkeit (Festlegung von Spielregeln) und einer kompensierenden Verteilungsgerechtigkeit. Ziel des daraus resultierenden Befähigungsansatzes [1] ist eine aktivierende, ermöglichende Teilhabegesellschaft mit Verwirklichungschancen für die Freiheit, nach eigenen Wünschen zu handeln. Zieldimensionen sind u.a. Armutsvermeidung, Bildungszugang, Arbeitsmarktinklusion, soziale Kohäsion und ökonomische Gleichheit [2]. Im Gesundheitsbereich entspricht das Streben nach sozialer Gerechtigkeit dem Public-Health-Paradigma und ist einer der Vorbedingungen für Gesundheit [3]. Als sozial ungerecht wird bezeichnet, wenn Gruppen hinsichtlich der Möglichkeit, gesund zu bleiben, durch niedriges Einkommen, Geschlecht, Herkunft, Arbeitslosigkeit oder den Wohnort benachteiligt sind [4]. Beispiele für eine sozial ungerechte Ausprägung des Mundgesundheitszustands sind, dass Erwachsenen mit hohem Sozialstatus durchschnittlich ein Zahn fehlt, solchen mit niedrigem Status 3,8 Zähne [5]. In Berlin-Mitte hatten 43% der deutschen Schulkinder behandlungsbedürftige Zähne, 69% der osteuropäischen [6]. Bei Kitas in Hannover lag die Kariesprävalenz zwischen Null und 35% [7]. Prinzip sozialer Gerechtigkeit ist es, Gefahren durch organisierte Anstrengungen der Gesellschaft zu mindern und Lasten und Leistungen fair und gleichmäßig zu verteilen. Jedoch ist eine überproportionale Belastung von beispielsweise der Automobil- oder Tabakindustrie fair, weil sie zu größerem Schutz der Gemeinschaft führt [8]. Prävention sollte den Nutzen von Interventionen maximieren und diesen gleichmäßig verteilen. Im Hinblick auf die therapeutische Versorgung bedeutet soziale Gerechtigkeit, den Zugang zur Behandlung und deren Qualität für alle gleichmäßig zu gestalten [4].

Literatur: [1] Sen A: Inequality Re-examined, Oxford University Press, Oxford 1992

[2] Bertelsmannstiftung (Hrsg.), Empter S, Schraadt-Tischler D: Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland? Sustainable Governance Indicators 2011. Gütersloh 2010

[3] WHO: Ottawa Charta for Health Promotion. www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf

[4] Whitehead M: The Health Divide: Inequalities in Health in the 1980's. Health Education Council, London 1987

[5] Schiffner U: Zahnkaries. In: Micheelis W, Schiffner: Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV). Deutscher Zahnärzte Verlag, Köln 2006, 307 – 353

[6] Butler J, Bezirksamt Mitte von Berlin, Abteilung Gesundheit und Personal (Hrsg.): Zahngesundheit der Kinder in Berlin-Mitte. Spezialbericht. Beiträge zur Gesundheitsförderung und Gesundheitsberichterstattung. Band 11. April 2009

[7] Robke FJ, Buitkamp M (2002): Häufigkeit der Nuckelflaschenkaries bei Vorschulkindern in einer westdeutschen Großstadt. Oralprophylaxe 24, 59 – 65

[8] Beauchamp DE (1976): Public Health as Social Justice. In: Beauchamp DE, Steinbock B: New ethics for the public’s health. Oxford University Press, Oxford – New York 1999, 101 – 114. Reprint from: Inquiry 13, 1 – 14, 1976