Gesundheitswesen 2013; 75 - A243
DOI: 10.1055/s-0033-1354194

Geriatrie – Ausweg aus der Fehlversorgung älterer Menschen?

N Lübke 1
  • 1Kompetenz-Centrum Geriatrie des GKV-Spitzenverbandes und der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste, Hamburg

Die Versorgung immer mehr älterer Menschen und der hiermit zu erwartende Anstieg von Pflegebedürftigkeit stellen die Sozialversicherungssysteme zunehmend unter Druck und vor neue konzeptionelle und ökonomische Herausforderungen. Die im deutschen Gesundheitssystem relativ junge Fachdisziplin der Geriatrie beansprucht, sich diesen Herausforderungen in besonderem Maße zu stellen und zukunftsfähige Versorgungsangebote für ältere Menschen zu entwickeln. Der Beitrag reflektiert aus einer sozialmedizinischen Perspektive die derzeitige Versorgung älterer Menschen, hinterfragt hierbei insbesondere den Stellenwert der seit Einführung des DRG-Systems rasch gewachsenen geriatrischen Versorgungsstrukturen und stellt diese krititsch einer fachlichen Analyse der besonderen Bedarfe dieser Patientengruppe gegenüber. Hiernach zeichnen sich alte Menschen vor allem durch eingeschränkte Reservekapazitäten aus. Sie sind in der Regel nicht nur durch zunehmende Kumulation chronischer Krankheiten (Multimorbidität) gekennzeichnet, sondern unterliegen vor allem einem deutlich höheren Risiko als jüngere Patienten, bereits bei geringfügig erscheinenden zusätzlichen Gesundheitsproblemen dauerhafte Einbußen ihrer bisherigen Selbständigkeit ggf. bis hin zur Pflegebedürftigkeit zu erleiden. Diese Risiken gilt es frühzeitig zu erkennen und durch ein individuell bedarfsgerechtes Behandlungsmanagement weitest möglich in ihren potenziell negativen Auswirkungen zu begrenzen. Ein solches Management erfordert angesichts vielfacher Komorbiditäten zumeist auch eine Behandlungspriorisierung auf diejenigen Erkrankungen des alten Menschen, deren Behandlung tatsächlich etwas zum Erhalt seiner Selbständigkeit, Autonomie, Teilhabe und Lebensqualität beiträgt. Daher gewinnen neben klassisch kurativer Behandlung auch rehabilitative Interventionsansätze und eine Vielzahl im Alter für den Teilhabeerhalt oft ebenso entscheidende kontextliche Versorgungsansätze an Bedeutung. Ferner erfordert diese Herangehensweise einen gesamtheitlichen Blick auf den alten Menschen und wirft damit die Frage nach einem ausgewogenen Verhältnis und sinnvollen Zusammenwirken generalistischer und spezialisierter Qualifikationen in unserem Gesundheitssystem auf. Während Aspekte der Unter- wie Überversorgung alter Menschen an vielen Stellen zutage treten (bspw. Koordinationsdefizite zwischen den Versorgungsektoren und zwischen haus- und fachärztlicher Versorgung, Mehrfachdiagnostik, Polypharmazie, unkontrollierte therapeutische Indikationsausweitungen, aber auch Unterdiagnostik und Unterversorgung bspw. vieler geriatrietypischer Syndrome wie Sturz, Demenz, Depression, Inkontinenz, Mangelernährung oder in der präventiven und rehabilitativen Versorgung), stellt sich die Frage, ob die Geriatrie in ihrer bisherigen überwiegend stationären und auf bestimmte Leistungsaspekte (insbesondere frührehabilitative Komplexbehandlungen) fokussierten Etablierungsform im gesundheitlichen Versorgungssystem ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird und diesen Fehlversorgungen tatsächlich entgegensteuert. So zeigen bspw. zusammen mit dem Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen durchgeführte Routinedatenauswertungen zwar den erheblichen Beitrag der Geriatrie zur rehabilitativen Versorgung älterer Menschen, belegen über die hierfür gesetzten Vergütungsanreize aber erneut Tendenzen zu Über- wie Unterversorgung. Weniger etabliert sind bisher Leistungen, die die Geriatrie aufgrund ihrer speziellen Kompetenzen und Erfahrungen supportiv und integrativ in die Behandlungsprozesse alter Menschen einbringen könnte (bspw. die Versorgung demenziell erkrankter Menschen, von Patienten mit Schluckstörungen oder Wundproblemen, Intermediate-Care, palliativmedizinische Betreuung etc.). Der Autor schlussfolgert, dass sich der geriatrische Versorgungsansatz nicht alleine über separierte geriatrische Versorgungsstrukturen umsetzen lässt, sondern auf vielen Ebenen – nicht zuletzt auch ambulant – besser in die Gesamtversorgung alter Menschen integriert werden muss. Hierzu bedarf es neben einer geriatrischen Facharztqualifikation auf hohem Anspruchsniveau v.a. einer breiten, flächendeckenden geriatrischen Basisqualifikation in der hausärztlichen Versorgung. Darüber hinaus ist eine effizientere Einbettung der medizinischen Versorgung in ergänzende und kooperierende multiprofessionelle Versorgungsstrukturen und -angebote für die kontextliche Versorgung älterer Menschen unerlässlich.