Übersicht
Über den Umgang mit Transvestiten in der NS-Zeit liegen bislang keine systematischen
Untersuchungen vor. Aufgrund der historischen Herleitung des Transvestitismus aus
der „conträren Sexualempfindung“ des 19. Jahrhunderts galt das Verhalten medizinisch
als Symptom und juristisch als Indiz der Homosexualität, eine pauschale Zuschreibung,
gegen die sich heterosexuelle Transvestiten und Sexualwissenschaftler wandten. In
der Weimarer Zeit kam es im Zuge einer Liberalisierung zur behördlichen Anerkennung
in Form sogenannter Transvestitenscheine sowie zur Etablierung subkultureller Strukturen.
Eine Änderung der Strafbestimmungen in der NS-Zeit ist für das Tragen der Kleidung
des anderen Geschlechts (Erregung öffentlichen Ärgernisses) nicht belegt, auch wenn
allgemein restriktiver verfahren wurde. Jedoch gibt es Hinweise auf lokale Ausnahmeregelungen.
In Auswertung von Strafverfolgungsakten, sowie medizinischer und kriminologischer
Publikationen werden im Folgenden Kontinuitäten und Brüche im Umgang mit Transvestiten
aufgezeigt. Dabei spielen sexuelle Orientierung und Geschlecht eine entscheidende
Rolle. ‚Homosexuelle’ Transvestiten wurden nach den für homosexuelle Handlungen oder
Prostitution vorgesehenen (1935 verschärften) Strafbestimmungen verfolgt; dabei konnte
der Transvestitismus das Strafmaß erhöhen oder zur Kastrationsempfehlung beitragen.
Bei ‚heterosexuellen’, zumeist verheirateten Transvestiten, die sich in der Regel
nicht öffentlich zeigten und auch den gegen sie erhobenen Homosexualitätsverdacht
entkräften konnten, lässt sich in keinem Fall eine Strafverfolgung nachweisen, obwohl
ihre Neigung in der NS-Geschlechterideologie als sittenwidrig galt. Anders als ‚homosexuelle’
Transvestiten, die in Frauenkleidern Männer attrahierten, oder ‚heterosexuelle’, die
ihre Neigung im Verborgenen lebten, versuchten Transvestitinnen meist im Alltag als
Männer durchzugehen. Bei allen aufgefundenen Strafakten handelt es sich um homosexuelle
Transvestitinnen. Obwohl weibliche Homosexualität auch in der NS-Zeit nicht strafbar
war, scheint man ebenso widersprüchlich wie willkürlich mit den Transvestitinnen umgegangen
zu sein. Die juristischen Sanktionen wegen des öffentlichen Tragens von Männerkleidung
reichen von aktenkundigen Verwarnungen bis hin zur KZ-Haft. Zugleich kam es in Ausnahmefällen
auch bei Transvestitinnen zur Bewilligung von Transvestitenscheinen oder zur Vornamensänderung.
Die nach dem Ersten Weltkrieg eingeführte Praxis operativer Geschlechtsumwandlung
bei sogenannten ‚extremen Transvestiten’ beiderlei Geschlechts ist für die NS-Zeit
nur bei ganz wenigen Mann-zu-Frau-Fällen und keinem Frau-zu-Mann-Fall nachweisbar.
Dabei spielten eugenische und therapeutische Erwägungen eine Rolle.
Da es sich hier um eine erste explorierende Untersuchung handelt, werden abschließend
einige Forschungsfelder benannt, die sich aus dem Material ergeben. Sie verstehen
sich als Anregung für zukünftige Untersuchungen.
Schlüsselwörter
Geschichte der Sexualforschung - Nationalsozialismus - Transvestitismus