Zahnmedizin up2date 2015; 9(06): 589-609
DOI: 10.1055/s-0033-1358198
Varia
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Häusliche Gewalt – Möglichkeiten der Intervention

Uwe Schmidt
,
Christine Erfurt
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Publication Date:
01 December 2015 (online)

Einleitung und Begriffsbestimmung

Jährlich verlieren mehr als 1,6 Mio. Menschen weltweit ihr Leben durch Gewalt, sie ist damit die häufigste Todesursache für Menschen zwischen dem 15. und 44. Lebensjahr. Gerade weil Gewalt so allgegenwärtig ist, wird sie häufig als ein unvermeidlicher Teil der menschlichen Existenz angesehen, eine Tatsache, auf die reagiert wird, anstatt sie zu verhindern. Eine bedeutende Rolle spielt auch die Gewalt gegen den Lebenspartner, die ausnahmslos in allen Ländern, allen Kulturen und allen sozialen Schichten vorkommt. Ganz überwiegend handelt es sich hierbei um Gewalt gegen Frauen, aber auch Männer sowie Partner in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften können Opfer von Gewalt werden [1].

Seit den 1980er-Jahren erfolgte eine zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gewaltphänomen. In zahlreichen europäischen Ländern wurden umfassende nationale Prävalenzstudien zur Gewalt gegen Frauen durchgeführt. Die Bundesregierung stellte 2004 die Ergebnisse der ersten deutschen repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland als Bestandteil des nationalen Aktionsplans zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen von 1999 vor. In der Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ wurden in einer repräsentativen Stichprobe über 10 000 Frauen von 16–85 Jahren in ganz Deutschland umfassend zu ihren Gewalterfahrungen, ihrem Sicherheitsgefühl und ihrer psychosozialen und gesundheitlichen Situation befragt. In der Studie wurden die Gewaltformen körperliche, sexuelle und psychische Gewalt sowie sexuelle Belästigung erfasst. Dabei konnte folgende Gewaltprävalenz festgestellt werden:

„Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Methodik zur Erfassung von körperlicher Gewalt haben 37 % aller Befragten […] Handlungen körperlicher Gewalt und Übergriffe ab dem 16. Lebensjahr erlebt. 13 % der befragten Frauen […] gaben an, seit dem 16. Lebensjahr Formen von sexueller Gewalt erlebt zu haben, die sich auf die enge Definition strafrechtlich relevanter Formen erzwungener sexueller Handlungen beziehen. 40 % der befragten Frauen haben – unabhängig vom Täter-Opfer-Kontext – körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlebt. Unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung haben 58 % der Befragten erlebt. 42 % aller befragten Frauen gaben an, Formen von psychischer Gewalt erlebt zu haben […]. Rund 25 % der in Deutschland lebenden Frauen haben Formen körperlicher oder sexueller Gewalt (oder beides) durch aktuelle oder frühere Beziehungspartnerinnen oder -partner erlebt“ [2].

Ähnliche Ergebnisse wurden auch in anderen Studien erhoben. Beispielhaft sei auf eine Studie aus den USA verwiesen: In 11 Notaufnahmen zufällig ausgewählter Krankenhäuser wurden 3455 Frauen ab dem vollendeten 18. Lebensjahr nach ihren Gewalterfahrungen befragt. 2,2 % der befragten Frauen berichteten über akute Misshandlungen, 14,4 % über körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch innerhalb des vergangenen Jahres und 36,9 % über emotionale oder körperliche Misshandlung in der Vergangenheit [3].

Da die Gewalt im sozialen Nahraum gegen Erwachsene anderen rechtlichen Bedingungen als Gewalt gegenüber Kindern unterliegt und unterschiedliche Handlungsoptionen resultieren, werden diese Problemfelder in der wissenschaftlichen Bearbeitung eigenständig behandelt. Gleichwohl bestehen natürlich Überschneidungen, die in der Praxis Beachtung finden müssen.

Kindesmisshandlung

Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige (bewusste oder unbewusste) gewaltsame körperliche und/oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen (z. B. Kindergärten, Schulen, Heimen) geschieht, die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum Tode führt und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht [4].

Häusliche Gewalt ist kein singuläres Ereignis, sie entwickelt eine Eigendynamik, die als Kreislauf der Gewalt beschrieben wird. Nach Walker beginnt dieser Kreislauf mit der Phase des Spannungsaufbaus, es folgt die Phase des Gewaltausbruchs, an die sich die Reue-, Entschuldigungs- und Entlastungsphase anschließt [5]. Insbesondere die Phase der Reue und der Entschuldigung macht es dem Opfer häuslicher Gewalt schwer, sich aus dieser Gewaltbeziehung zu lösen.

Häusliche Gewalt

Unter häuslicher Gewalt werden Gewaltdelikte in bestehenden, sich auflösenden oder aufgelösten partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Erwachsenen unabhängig vom eigentlichen Tatort verstanden. Zur häuslichen Gewalt zählen auch Gewaltdelikte zwischen erwachsenen Menschen, die in einem Angehörigenverhältnis bzw. engen sozialen Beziehungen zueinander stehen.

  • Phase des Spannungsaufbaus: Die Spannung baut sich über allgemeine Themen des Alltags (Finanzen, Kinder, Beruf) auf. Es kommt zu verbalen Beleidigungen. Typisch ist in dieser Phase ein willkürlicher Wechsel des Verhaltens aufseiten des Täters zwischen liebevoll-zugewandt und aggressiv-kontrollierend. Das Opfer versucht, die Situation zu kontrollieren, dem Täter entgegenzukommen bzw. kritische Situationen zu vermeiden.

  • Phase des Gewaltausbruchs: Eskalation der Spannung mit offenem Gewaltausbruch und physischer Misshandlung. Unter Umständen können schwere bis zu tödliche Verletzungen resultieren.

  • Phase der Reue und Versöhnung: Der Täter entschuldigt sich, beschwichtigt und zeigt Bemühungen zur Aufrechterhaltung der Beziehung.

Die Täter sind ganz überwiegend männlich, die Hauptopfergruppe sind Frauen. Daneben gibt es aber weitere Opfergruppen [6]:

  • männliche Partner

  • Partnerinnen und Partner aus gleichgeschlechtlichen Beziehungen

  • ältere Familienangehörige (insbesondere Pflegebedürftige)

  • erwachsene Kinder, die von ihren Eltern gewalttätig behandelt werden

  • erwachsene Geschwister

  • Angehörige mit Behinderungen

  • Betroffene mit Migrations- und Fluchterfahrung

Häusliche Gewalt ist unabhängig von sozialer Schicht, Bildungsstand, Einkommen, Alter, kulturellem Hintergrund und sexueller Orientierung. Komplexe Problemkonstellationen, besondere Lebenssituationen oder Umbruchphasen im Lebenslauf können die Vulnerabilität für Gewalterfahrungen potenziell erhöhen. Hierzu zählen u. a. Schwangerschaft und Mutterschaft, Behinderung, Krankheit, hohes Alter, ungesicherter Aufenthalts- oder Minoritätenstatus sowie Migrationshintergrund [6].

Das Ausmaß häuslicher Gewalt ist nicht bekannt. Es wird zwischen einem Hellfeld und einem Dunkelfeld unterschieden. Das Hellfeld ist durch die in der polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Fälle definiert. In den letzten Jahren war ein kontinuierlicher Anstieg der erfassten Fallzahlen zu verzeichnen. Das Landeskriminalamt Sachsen registrierte im Jahr 2006 1554 Fälle (1313 Frauen, 241 Männer). Im Jahr 2011 war in Sachsen ein Anstieg auf 2831 Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt zu beobachten, bei 67 % der erfassten Fälle handelte es sich um Körperverletzungsdelikte [7]. Die Berliner Polizei registrierte im Jahr 2013 insgesamt 15 971 Fälle häuslicher Gewalt [8].

Dem Gesundheitswesen kommt bei der Bekämpfung häuslicher Gewalt eine besondere Bedeutung zu. Betroffene häuslicher Gewalt sehen ihren Arzt sowie andere medizinische Fachkräfte als ersten Ansprechpartner für ihr Problem – ohne jedoch von selbst das Gespräch zu suchen [9]. Die Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung werden von allen Bevölkerungsschichten unabhängig von sozialer Lage, Geschlecht und Alter aufgesucht. Gewaltbetroffene können hier erreicht werden. Im Rahmen der medizinischen Versorgung können die Ursachen bestehender Verletzungen sowie Einflussfaktoren für Beschwerden und Erkrankungen erforscht und Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Gewalteinwirkungen eingeleitet werden.

Ende der 1990er-Jahre gründete sich in Berlin die Initiativgruppe S. I. G. N. A. L., die sich zum Ziel gesetzt hatte, Modelle zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Gewalt betroffener Frauen zu entwickeln und im Gesundheitswesen zu verankern. 1999 wurde in der Bundesrepublik Deutschland im Berliner Universitätsklinikum Benjamin Franklin das erste Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt etabliert. S. I. G. N. A. L. steht hierbei für die zentralen Handlungsschritte und -ziele der Intervention in kurzer einprägsamer Form.

S. I. G. N. A. L.
  • S – Sprechen Sie die Patientin an, signalisieren Sie Ihre Bereitschaft. Frauen öffnen sich, wenn sie spüren, dass ihre Situation verstanden wird.

  • I – Interview mit konkreten einfachen Fragen. Hören Sie zu, ohne zu urteilen. Den meisten Frauen fällt es schwer, über Gewalterlebnisse zu sprechen.

  • G – Gründliche Untersuchung alter und neuer Verletzungen. Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien können Hinweise auf häusliche Gewalt sein.

  • N – Notieren und dokumentieren Sie alle Befunde und Angaben, sodass sie gerichtsverwertbar sind.

  • A – Abklären des aktuellen Schutzbedürfnisses. Schutz und Sicherheit für die Patientin sind Grundlage und Ziel jeder Intervention.

  • L – Leitfaden mit Notrufnummern und Unterstützungsangeboten anbieten. Frauen werden zu einem für sie richtigen Zeitpunkt von ihnen Gebrauch machen.

Quelle: [10]

Eine Befragung von 806 Patientinnen einer Berliner Rettungsstelle ergab, dass 67 % der Befragten im Fall von Gewalt in Ärzten und Pflegekräften wichtige Ansprechpartner sehen. Allerdings waren demgegenüber nur 7,5 % der Frauen jemals von ihrem Arzt nach Gewalterfahrungen befragt worden [10]. Das S. I. G. N. A. L.-Interventionsprogramm etablierte einen Handlungsleitfaden mit international anerkannten Interventionsschritten:

  • Erkennen und aktives Ansprechen von Gewalterfahrungen

  • rechtssichere ärztliche Dokumentation vorliegender Verletzungen und Beschwerden

  • Gewährleisten von Schutz und Sicherheit

  • Vermitteln von Informationen über weiterführende Versorgungs-, Beratungs- und Schutzangebote

Wichtig für medizinische Fachkräfte ist, auf Hinweiszeichen für ein mögliches Vorliegen häuslicher Gewalt zu achten. In der wissenschaftlichen Literatur werden folgende Warnzeichen („red flags“) benannt [10]:

  • Situative Faktoren

    • Begleitperson versucht, die Situation zu kontrollieren, spricht für Patient/-in

    • Verhalten des Patienten/der Patientin gegenüber der Begleitperson ist auffällig (ängstlich, vermeidend)

    • Erklärungen zum Verletzungshergang stimmen nicht mit deren Art/Lage überein

    • Zeitraum zwischen dem Entstehen und Aufsuchen der Rettungsstelle ist auffällig lang

    • Verletzungen werden verdeckt oder bagatellisiert

  • Körperliche Verletzungen

    • multiple mehrzeitige Verletzungen unterschiedlicher Färbungen/Heilungsstadien

    • geformte oder strukturierte Verletzungen, die auf den Einsatz eines Gegenstands schließen lassen

    • Verletzungen im Kopfbereich, an Unterarmen und Händen (Abwehrverletzungen)

    • zahlreiche Verletzungen durch stumpfe Gewalt

  • Gynäkologische und geburtshilfliche Aspekte

    • Schmerzen, hohe Anspannung bei Vaginaluntersuchungen

    • Vaginalentzündung

    • vaginale und rektale Verletzungen

    • Schwangerschaftskomplikationen

    • Früh-, Fehl- und Totgeburten

    • Blutungen im 1. und 2. Trimester der Schwangerschaft

  • Psychosomatische und psychische Beschwerdebilder

    • Angst- und Panikattacken

    • Schlafstörungen, Erschöpfungszustände

    • unspezifische Schmerzsyndrom-/Bauch-/Unterleibsbeschwerden

    • Depressionen, Suizidgedanken oder -versuche

    • posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)

  • Gesundheitsverhalten

    • unachtsamer Umgang mit chronischen Erkrankungen

    • Vermeiden oder mangelnde Inanspruchnahme von Früherkennungsangeboten oder Schwangerenvorsorge

    • Medikamenten- und Suchtmittelkonsum