Gesundheitswesen 2014; 76 - V44
DOI: 10.1055/s-0034-1371597

Beispiel Hamburg: Leistungssteuerung in der Eingliederungshilfe (Auch: Hinweise zur Rolle des ÖGD bei der Leistungssteuerung)

P Gitschmann 1
  • 1Abteilungsleiter Rehabilitation und Teilhabe in der Hamburger Behörde f. Arbeit, Soziales, Familie und Integration, Hamburg

1. Warum ist Steuerung in der Eingliederungshilfe erforderlich?

Die steuerfinanzierte, in kommunaler oder Länder-Trägerschaft befindliche Eingliederungshilfe (6. Kap. SGB XII) ist als Teil der Sozialhilfe eine nachrangige, z.T. bedürftigkeitsabhängige Teilleistung, deckt aber dennoch ein allgemeines Lebensrisiko ab. Sie weist zahlreiche Schnittstellen zu anderen Sozialleistungssystemen auf, und ist durch eine langjährige dynamische Fallzahl- und Kostensteigerung geprägt [1]. Die allgemeine sozialstaatliche Entwicklung (Stichworte: Teilhabe [2], Gleichstellung [3], Inklusion [4]) unterstreicht die Notwendigkeit einer personenzentrierten, leistungs-, sozialraum- und wirkungsorientierten Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe und im Besonderen das Erfordernis einer partizipativen Struktur- und Einzelfallsteuerung durch den Träger der Eingliederungshilfe.

Nach jahrelangen Vorarbeiten der Länder hat die Eingliederungshilfereform mit den Stichworten Bundesleistungsgesetz, Bundesteilhabegeld und Beteiligung des Bundes an den EGH-Kosten zur Entlastung der Kommunen und Länder Eingang im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung gefunden, und soll nun zügig angegangen werden.

2. Steuerungsebenen

2.1. Struktur- und Angebotssteuerung

Damit die benötigten bedarfsgerechten Angebote der EGH (Wohngruppen, Wohngemeinschaften, ambulante Einzelbetreuung, sozialpsychiatrische Angebote, Werkstätten, Tagesförderstätten, Frühförderung, Heilpädagogik, Familienentlastung, Studienhilfen ...) in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen, kann sich der Leistungsträger über Landesrahmenverträge, Zielvereinbarungen, Einzelverträge (§75 SGB XII) um Struktur- und Angebotsgestaltung bemühen, ist dabei aber jeweils auf das Einvernehmen mit den Leistungserbringern und ihren Verbänden sowie auf das „Mitgehen“ der Betroffenenorganisationen angewiesen [5]. Dies macht die Umgestaltung der jeweiligen EGH-Systeme, z.B. im Sinne verstärkter Ambulantisierung oder sozialräumlicher Ausgestaltung der Sozialpsychiatrie nicht einfach [6].

2.2. Individuelles Fallmanagement

§58 SGB XII sieht für die Eingliederungshilfe den sog. Gesamtplan vor, mit dessen Hilfe ein umfassendes individuelles Fallmanagement gestaltet werden soll. Notwendige Bestandteile sind die Feststellung der vorliegenden wesentlichen Behinderung und eines daraus erwachsenden, die EGH betreffenden Teilhabebedarfs [7], die Klärung der Zuständigkeit, ggf. die Einkommens- und Vermögensprüfung, die Präzisierung des gegebenen Bedarfes und der Ziele der beauftragten Leistungserbringung, die Begleitung des Leistungserbringungsprozesses und die sachgerechte Anschluss-Leistungsbewilligung. In diesem anspruchsvollen Feststellungs- und Steuerungsprozess sind qualitätsgesicherte medizinische, pflegerische, sozialtherapeutische, pädagogische und Sozialverwaltungskompetenzen (multiprofessionelles Team) erforderlich. Die Realität dieses Fallmanagements der Eingliederungshilfeträger ist jedoch noch sehr unterschiedlich ausgeprägt.

3. Reform des EGH-Fallmanagements in Hamburg 2008ff.

In Hamburg wurde beginnend in 2008 ein zentrales bezirkliches Fachamt zur Einzelfallsteuerung in der Eingliederungshilfe aufgebaut. Mit dem Einsatz des zentralen Instrumentes eines qualifizierten, partizipativen Gesamtplanverfahrens sollte die bis dahin beobachtete angebotsdominierte Bedarfsfeststellung und Bedarfsdeckungsentscheidung durchbrochen, und im Bündnis mit den Leistungsberechtigten ein personen-, bedarfs-, leistungs- und wirkungsorientiertes Leistungsgeschehen gefördert werden. Das zunächst als Projekt geführte Fallmanagement konnte in der begleitenden Evaluation eindrucksvoll seine Wirksamkeit belegen, und wurde in 2012 in die Regelstruktur und -finanzierung überführt. Der Ambulantisierungsgrad der Hamburger EGH liegt mittlerweile bei 64% [8], vorrangige Sozialleistungsträger werden mit wachsendem Erfolg gefordert, selbst die schwierige Schnittstelle EGH – Pflege kann zunehmend gestaltet werden. In der Hamburger Eingliederungshilfe sind – im Unterschied zu den meisten anderen EGH-Systemen – sinkende Durchschnitts-Fallkosten zu verzeichnen. Dass dies nicht durch Leistungskürzungen, sondern durch optimierte, präzisere Steuerung bewirkt wird, zeigt sich auch darin, dass die Fallmanager/innen sowohl bei den Leistungserbringern, wie auch bei den Leistungsberechtigten hohes Ansehen genießen.

Inzwischen arbeiten hier ca. 150 Fallmanager/innen auf festen Stellen an der individuellen Weiterentwicklung der Hamburger EGH.

Als letzter Ausbauschritt wurde in 2013 entschieden, auch ärztlichen Sachverstand und den Verfahrensschritt der Feststellung von Art und Wesentlichkeit der Behinderung und daraus erwachsenden EGH-Teilhabebedarfes beim zentralen Fallmanagement anzubinden, also den bisherigen Dienstleistern ÖGD zu entziehen. Die Evaluation dieser bisher in den bezirklichen Gesundheitsämtern wahrgenommenen Feststellungen hatte schwerwiegende Qualitätsmängel und unvertretbare Verfahrensdauern ergeben. Der ärztliche Dienst im Fachamt Fallmanagement nimmt im Frühjahr 2014 seine Arbeit auf.

4. Ausblick

Die anstehende bundesgesetzliche Reform der Eingliederungshilfe wird die Rahmenbedingungen sowohl zur Struktur- und Angebotssteuerung wie zum Einzelfallmanagement weiter verbessern, und dabei einige der belegten Hamburger Erfahrungen aufgreifen. Ziel ist es ausweislich der einvernehmlichen Länderpositionierung [9], eine Leistungsträger-übergreifende, partizipative Teilhabeplanung bei den Trägern der Eingliederungshilfe zu etablieren, so dass diese – ggf. in der Rolle des „Beauftragten“ auch für andere benötigte Sozialleistungsträger – ein vollständiges, abgestimmtes Leistungspaket schnüren, darüber mit den Leistungsberechtigten „auf Augenhöhe“ eine Zielvereinbarung schließen, und das wirtschaftlichste Dienstleistungsangebot auswählen können.

[1] derzeitige EGH-Ausgaben: ca. 15 Mrd. €/Jahr; Leistungsberechtigte: 680.000 Personen.

[2] SGB IX, 2001.

[3] GG, Art. 3; BGG 2002, AGG 2006.

[4] Ratifizierung der VN-Behindertenrechtskonvention 2009.

[5] sog. „Sozialhilferechtliches Dreieck“: Leistungsberechtigte – Leistungsträger – Leistungserbringer.

[6] In der FHH geht es hier um einen jährlichen Markt mit einem Umsatz von knapp 400 Mio. €, auf dem die Versorgung für ca. 19.000 wesentlich behinderte Menschen zu organisieren ist.

[7] Für diesen Verfahrensschritt zieht der Leistungsträger häufig die Amtshilfe/Dienstleistung des ÖGD heran.

[8] Gemeinsam mit Berlin mit weitem Vorsprung Platz 1 im Benchmarking aller überörtlichen Sozial-= Eingliederungshilfeträger.

[9] Alle ASMK-Beschlüsse (und der Bundesrats-Beschluss) zur EGH-Reform erfolgten jeweils 16 : 0!