Gesundheitswesen 2014; 76(03): 125-126
DOI: 10.1055/s-0034-1371831
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Eine Gesundheit, eine Welt·

M. Wildner
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Publikationsdatum:
24. März 2014 (online)

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner

Die Reflexionen Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, zu den drei schweren Kränkungen der „Eigenliebe der Menschheit“, sind durchaus eingängig [1]. Welche diese sind? Die erste, als kosmologisch bezeichnete Kränkung betrifft den Ersatz des geozentrischen Weltbilds durch ein heliozentrisches Weltbild (Nikolaus Kopernikus). Nicht mehr unsere Erde ist der Mittelpunkt des Kosmos, um den sich alle Sterne drehen. Im Mittelpunkt unseres „Sonnen“systems steht vielmehr eben die Sonne, an welche auch die Erde durch die Gravitation gebunden ist. In kosmischen Zusammenhängen mit Abertausenden von Sonnen und Galaxien verstärkt sich diese Relativierung noch einmal.

Die zweite, biologische Kränkung des menschlichen Narzissmus bezieht sich auf den Ursprung der Menschen. Lange Zeit war in den Hochkulturen, anders als in primitiven, naturnäheren Kulturen, der Gedanke vorherrschend, dass der Mensch sich vom Tier wie auch von der Pflanzenwelt grundsätzlich unterscheidet: z. B. in dem er aufgrund eines eigenständigen Schöpfungsaktes ins Leben gerufen wurde oder in dem Tieren jegliche Vernunft aberkannt wurde – oder auch durch die Einordnung der Tiere als Sache in der Rechtssystematik. Diese Ansicht ist in aufgeklärten Gesellschaften seit Charles Darwin nicht mehr haltbar. Die Einsicht, dass sich das menschliche Leben wie auch das tierische Leben aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt hat, ist inzwischen naturwissenschaftlich gefestigt. Dass darüber hinaus alles Leben in einem Netzwerk ­miteinander verknüpft ist, ist eine Einsicht der ökologischen Wissenschaften. Dies schließt qualitative Sprünge in der Gen-Kultur-Koevolution nicht aus: Konrad Lorenz beurteilt den Unterschied zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten in der Tierwelt als mindestens so groß wie den Unterschied zwischen der Tierwelt und der Pflanzenwelt – er bezeichnet diesen Sprung als Fulguration [2].

Die dritte und Freuds Ansicht nach empfindlichste Kränkung ist „psychologisch“. Damit ist die Erkenntnis bezeichnet, dass das wahrgenommene Ich des Menschen „nicht Herr im eigenen Haus ist“. Gemeint ist, dass das Unterbewusste in seiner Vielschichtigkeit oft die eigentlich steuernde und treibende Kraft unseres Handelns und Denkens ist. Das von uns wahrgenommene bewusste Denken ist dem gegenüber eine relativ späte biologische Funktion. Sie stellt nur die Spitze des Eisberges innerpsychischer Vorgänge dar.

Gelegentlich sind in diesem Sinne noch weitere Kränkungen ergänzt worden. Für die Medizin könnte eine weitere schwere Kränkung epidemiologischer Natur sein. Bei allen Erfolgen der Linderung von Krankheit und allem hilfreichen Handeln in der Patientenbehandlung ist doch der Beitrag der Individualmedizin zur Gesundheit einer Bevölkerung zu relativieren. Schätzungen gehen davon aus, dass in den letzten 150 Jahren der Beitrag der Medizin zur Gesunderhaltung und damit der Lebensverlängerung deutlich unterhälftig ist gegenüber den Einflüssen anderer Handlungsfelder. Gemeint sind sauberes Trinkwasser, Kanalisationssysteme zur Abwasserentsorgung, wirksame Infektionsschutzmaßnahmen der Bevölkerungsmedizin, ausreichende Versorgung mit sicheren Lebensmitteln, Verbesserungen bei Kleidung, Wohnung sowie Bildung im Allgemeinen. Ein Trost für die so gekränkte Medizin ist, dass die öffentliche Gesundheit in großen Teilen auch ärztliches Aufgabengebiet ist. Ein weiterer Trost ist auch die Einsicht, dass die Linderung von Leid ohne Einfluss auf die Lebenserwartung einhergehen kann und trotzdem einen hohen Wert hat – nicht zuletzt in der Palliativmedizin. Schließlich könnte ein letzter Trost in der Entlastung der ärztlichen Profession vor überhöhten Erwartungen durch das Zurücktreten in eine Reihe neben anderen innerhalb des großen Netzwerks des Lebens liegen.

Dieser Gedanke eines Netzwerks des Lebens ist auch im christlichen Kontext, insbesondere in der franziskanischen Spiritualität zu finden. Franziskus singt von Bruder Sonne und den Schwestern Mond und Sterne, die Erzählungen berichten von der Rettung von Lämmern, Tauben, Fischen, Bienen und Würmern als Ausdruck seines franziskanischen Mitgefühls. Dabei ist ein solches Mitgefühl vor allem auch ein Kennzeichen der Weltsicht des Buddhismus und findet sich in den alten Schriften schon aus der Zeit des 5. Jahrhunderts vor christlicher Zeitrechnung. So ist ein Kerninhalt buddhistischer Weisheit (Sanskrit: Prajna) die Einsicht, dass alle Wesen verwandt und in dieser Einheit auf einander angewiesen sind. Damit ist ein Schaden, der einem einzelnen Lebewesen zugefügt wird, zugleich auch ein Schaden für das Leben insgesamt, uns selbst inbegriffen. Deshalb erwächst aus dieser Weisheit tätiges Mitgefühl (Sanskrit: Karuna) und das Prinzip der Gewaltlosigkeit (Sanskrit: Ahimsa).

Es steht außer Frage, dass das Zusammentreffen des Christentums mit dem Hellenismus und seiner Philosophie das westliche Denken entscheidend geprägt hat. Damit wurde auch eine notwendige Grundlage für unser modernes wissenschaftliches Denken gelegt. Doch ist das kognitive Nachsinnen alleine der einzige Weg zu ­Erkenntnis? Schon der frühe franziskanische Philosoph Bonaventura unterschied verschiedene Erkenntniswege und mühte sich um eine Einheit philosophischen und theologischen Erkennens durch ein mehr intuitives Angerührt-Werden im Inneren. Ähnlich wie in der sonstigen christlichen Mystik lassen sich hier Parallelen zu östlichen Erkenntnislehren finden.

Dem britischen Historiker Arnold Toynbee wird der Ausspruch zugeschrieben, dass die Begegnung von westlicher Kultur und Buddhismus das große Ereignis des 20. Jahrhunderts gewesen sei, dessen Auswirkungen sich erst noch entfalten werden. Möglicherweise steht uns damit noch einmal eine Metamorphose von kulturhistorischem Ausmaß bevor. Schon jetzt findet sich in der ökologischen Bewegung westlicher Prägung viel Gedankengut aus dem Kulturkreis des Buddhismus und wird dort zunehmend inkulturiert. Dabei ist zu beachten, dass der Buddhismus einerseits als Religion verstanden werden kann, wenn auch ohne konkretes Gottesbild. Gleichzeitig und vielleicht besser kann er als philosophische Ausrichtung begriffen werden. Was unserer Zeit und auch der Wissenschaft stark entgegenkommt, ist der Verzicht auf eine ausformulierte Dogmatik und die Betonung der eigenen, oftmals subjektiven Empirie als Erkenntnisgrundlage [3].

Findet sich eine Spiegelung dieser Entwicklungen auch im Gesundheitsbereich? Auf die systemischen Bezüge der Lebenserwartung wurde bereits hingewiesen. Näher konkretisiert wurden diese Ansätze z. B. im Regenbogenmodell von Dahlgren und Whitehead mit seinen Sphären der individuellen biologischen Grundlagen, Verhaltens- und Lebensweisen, die Beeinflussung durch das soziale Umfeld, die allgemeineren Lebens- und Arbeitsbedingungen einschließlich des Zugangs zum Gesundheitswesen und die sozioökonomischen, kulturellen und natürlichen Umweltbedingungen, wie z. B. wirtschaftliche Lage, Ernährungsgewohnheiten und Klima [4]. Im Bereich der Bevölkerungsmedizin ist der dazugehörige Begriff der einer „New Public Health“. Darunter wird eine systemorientierte Herangehensweise im Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege verstanden, welche durch Multiprofessionalität, Interdisziplinarität und transdisziplinäre Handlungsansätze mit starken partizipatorischen Elementen gekennzeichnet ist.

In diesem Zusammenhang soll noch auf ein weiteres Konzept verwiesen werden, nämlich das von „One Health – Eine Gesundheit“. Anlässlich eines interdisziplinären Treffens in New York wurden 2004 von der Wildlife Conservation Society die sogenannten Manhattan-Prinzipien formuliert [5]. Diese Prinzipien rufen die Verantwortungsträger in Politik und Gesellschaft dazu auf, einen ganzheitlichen Ansatz in der Prävention von Epidemien und insbesondere Zoonosen mit Übertragung von Krankheitserregern von Tieren auf die Menschen zu verfolgen. Gleichzeitig ist der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen in Form unseres Ökosystems ein zentrales Anliegen. Dieser Gedanke wurde seither von den verschiedensten Organisationen aus den Bereichen von Umwelt, Veterinärmedizin und menschlicher Gesundheit aufgegriffen und unterstützt.

Die Schnittstellen zwischen Ökosystem, Humanmedizin und Veterinärmedizin sind unübersehbar. Beispiele reichen von der Bildung von Antibiotikaresistenzen durch deren Verwendung zu unterschiedlichen Zwecken in Human- und Tiermedizin bis zu neuen Infektionsgefahren aufgrund eines Raum greifenden Siedlungsdruckes mit Beeinträchtigung der natürlichen Lebensräume verschiedenster biologischer Arten. Beispiele insbesondere aus dem Bereich der übertragbaren Krankheiten sind leicht zu finden: Die SARS-Epidemie von 2003 mit epidemischer Übertragung eines Coronavirus vom Tier auf den Menschen, die verschiedenen genetischen Veränderungen des Influenzavirus aufgrund des engen Zusammenlebens von Mensch und Tier insbesondere in Asien, die Übertragung von multiresistenten bakteriellen Erregern auf den Menschen bei der Schweinemast.

Darüber hinaus sind noch weitere Zusammenhänge zu beobachten. Ein Beispiel dafür sind sich ändernde Verzehrgewohnheiten mit starker Präferenz für tierisches Eiweiß. Dies führt zu einer Umsteuerung von pflanzlichen Lebensmitteln in die Tierproduktion mit teilweise dadurch bedingter Lebensmittelverknappung für Bevölkerungsgruppen mit geringer Kaufkraft. Hinzu kommen spürbare Auswirkungen der bei der Tiermast entstehenden Methangase auf die globale Erwärmung. Es wird deutlich, dass Menschen bei einer ganzheitlichen One Health Betrachtung nicht nur Opfer von Zoonosen sind. Sie sind gleichzeitig auch Täter: Durch die Art der Tierhaltung, durch die Verwendung von Antibiotika in der Tierfütterung, durch die bevorzugten Ernährungsweisen sowie durch den Umgang mit den natürlichen Ressourcen in Landwirtschaft und Siedlungsbau. Damit wird Gesundheit auch zu einem „planetaren“ Thema [6].

Den systemischen Zusammenhängen von Gesundheit und Krankheit geht auch diese Ausgabe des Gesundheitswesens wieder nach. Bezogen auf Männergesundheit wird die Auswirkung von Konkurrenzverhalten untersucht, es wird über die Versorgungslage im Bereich der ambulanten Psychotherapie berichtet sowie über Burnout, Arbeitsstörungen, interpersonelle und psychosomatische Probleme bei Studenten mit unterschiedlichen Studienabschlüssen, über Gesundheits-Coaching in der Arbeitsmarktintegration, über die Validierung von Elternfragebögen für die Vorsorgeuntersuchung U7 und über Frakturkosten durch Osteoporose im stationären Sektor. Einen Blick in die Europäische Nachbarschaft ermöglicht der Beitrag über privat finanzierte Gesundheitsleistungen in polnischen Woiwodschaften. Besonders sei auf die Stellungnahme der DGSMP zur Bedeutung der personenbezogenen Faktoren der ICF für die Nutzung in der praktischen Sozialmedizin und Rehabilitation in diesem Heft hingewiesen.

Am Anfang dieser Überlegungen wurde gesagt, dass diese Abhängigkeit von systemischen Bezügen eine Kränkung für die vielleicht mancher Orts – und nicht nur bei Ärzten – zu findenden Allmacht-Fantasien bezogen auf das medizinisch Machbare darstellen. Gleichzeitig liegt hier – durchaus im analytisch-therapeutischen Sinn – auch der Keim der Hoffnung. Möglicherweise ist diese „Kränkung“ in der Medizin eine notwendige Voraussetzung zur „Gesundung“ an Körper, Seele und Geist für einzelne Menschen und darüber hinaus: Durch einen achtsamen und mitfühlenden Umgang mit Menschen, Tieren und dem gesamten Ökosystem, in dem wir leben. Ein solcher Umgang wäre tatsächlich als positive Frucht, vielleicht auch aus der Begegnung von östlichem und westlichem Geist, zu werten.

 
  • Literatur

  • 1 Freud S. Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 1917; Bd. V 1-7
  • 2 Lorenz K. Die Rückseite des Spiegels. München, Piper 1973 (Erstausgabe)
  • 3 Kopp SB. Triffst Du Buddha unterwegs. Psychotherapie und Selbsterfahrung. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag; 2003
  • 4 Dahlgren G, Whitehead M. Policies and strategies to promote social equity in health. Stockholm: Institute for Future Studies; 1991
  • 5 Wildlife Conservation Society The Manhattan Principles As defined during the meeting titled Building Interdisciplinary Bridges to Health in a “Globalized World” held in 2004. URL http://www.cdc.gov/­onehealth/pdf/manhattan/twelve_manhattan_principles.pdf download am 26.04.2014
  • 6 Horton R. Offline: Planetary health – a new vision for the post-2015 era. Lancet 2013; 382: 1012