Z Sex Forsch 2014; 27(3): 258-277
DOI: 10.1055/s-0034-1385033
Dokumentation
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der erotische Raum[1]

Weibliches Begehren in der systemischen Sexualtherapie
Angelika Eck
a   Psychologische Paarpraxis, Karlsruhe
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Publication Date:
19 September 2014 (online)

Sexuelle Lustlosigkeit oder Paarkonflikte um Unterschiede im Begehren zählen zu den häufigsten Themen der sexualtherapeutischen Praxis. Im Fokus dieses Artikels steht die therapeutische Arbeit mit Frauen, für die der Zugang zur eigenen Erotik erschwert ist. Der Beitrag beleuchtet prototypische Konfliktdynamiken und paar- und einzeltherapeutische Interventionen, die betroffenen Frauen wie auch den Paaren (wieder) Anschluss an ihr erotisches Potenzial eröffnen.

Im aktuellen Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders (DSM-5, APA 2013) wurde die Störungskategorie Hyposexual Desire Disorder (HSDD) für einen Mangel an sexuellem Begehren für Frauen aufgegeben und unter die breitere Kategorie sexual interest / arousal disorder subsummiert. Diese umfasst einen Mangel an sexuellem Interesse oder Erregung über eine Dauer von mindestens sechs Monaten in 57­–100 % der Zeit. Bereits im DSM-IV-TR (APA 2000) wurde nachträglich der persönliche Leidensdruck als notwendiges Störungskriterium integriert. Die Veränderungen bezüglich der Diagnose weiblicher Funktionsstörungen über DSM-Versionen hinweg reflektieren das psychiatrische Denken und den Stand der Forschung der jeweiligen Zeit. Frühere Fassungen des DSM gingen zunächst von viszeralen physiologischen Modellen der Frigidität (DSM-I, APA 1952) und psychodynamisch-konflikthaften Störungsmodellen (inhibited desire im DSM-III, APA 1980) aus. Das DSM-IV folgte mit der an den Konzepten sexueller Reaktionszyklen von Masters und Johnson (1966) und Kaplan (1979) orientierten Kategorie Hyposexual Desire Disorder (HSDD) noch der Idee, bestimmte sexuelle Reaktionen seien normal. Frauen, die keinen Leidensdruck berichten, wurden aber bereits von der Diagnose ausgeschlossen. Die aktualisierten Definitionen haben die Idee normaler oder gesunder Sexualität nicht vollständig aufgegeben, sonst gäbe es keine Störungskategorie mehr. Sie sehen Sex aber stärker denn je als eine Option, die gewählt werden kann, oder auch nicht (Clement 2013; IsHak und Tobia 2013).

Klinisch relevant und in der Praxis vorstellig werden inner- und außerhalb dieser Störungskonzeptionen Frauen, die an einem Mangel an sexuellem Interesse oder Begehren leiden, an geringer Erregbarkeit und/oder unter einem Paarkonflikt, der sich um den Unterschied im Interesse an Sex entzündet hat.

Der individuelle Leidensdruck der Frau und der Paarkonflikt können sich dabei unterschiedlich zueinander verhalten:

  1. Die Frau verspürt keinen Leidensdruck bezüglich ihrer eigenen Sexualität, aber es gibt einen Paarkonflikt, unter dem sie leidet: „Wenn es nach mir ginge, könnte es ein Leben ohne Sex geben, da ginge es mir bestens, aber ich weiß, dass das für meinen Mann gar nicht geht.“

  2. Die Frau verspürt einen Leidensdruck bezüglich ihrer Sexualität, aber es gibt (noch) keinen Paarkonflikt: „Was wir an Sex haben, ist für meinen Partner okay und für mich auch. Ich wüsste nicht, was er anders machen sollte. Aber ich fühle mich irgendwie unlebendig. Dabei weiß ich gar nicht recht, was ich anderes wollen würde.“

  3. Die Frau verspürt einen Leidensdruck bezüglich ihrer Sexualität und es gibt einen Paarkonflikt: „Ich habe ein schwieriges Verhältnis zu meiner Sexualität. Ich weiß. Und darum fällt es mir auch so schwer, mich auf Sex einzulassen. Und wenn er dann sauer ist, wird es noch schwieriger.“

Zu allen drei Szenarien gehören innerhalb der Paar- und Sexualtherapie Suchprozesse und eine Hinwendung zu den eigenen wie den partnerschaftlichen erotischen Möglichkeiten. In Variante 3 ist das Risiko, dass sich Paardynamik und individuelle Thematik behindernd verschränken, besonders hoch, wie das folgende Fallbeispiel[2] zeigt.

  • Anne (31) und Tobias (31), seit vier Jahren ein Paar. Anne würde lieber ganz auf Sex verzichten, fühlt sich unter Druck gesetzt, lässt sich nach Absprache ca. ein Mal pro Woche am Wochenende zu einer Zeit ihrer Wahl auf Sex ein. Sex sei bei ihr schon immer schwierig gewesen, sie sei einfach kein sexueller Mensch. Sie wisse, dass das für Tobias problematisch sei, der viel öfter Sex wolle. Tobias fühlt sich durch die Lustlosigkeit seiner Freundin sehr frustriert. Nach ihrer Abweisung schweigt er oft tagelang und kann sich nicht vorstellen, unter diesen Umständen mit ihr dauerhaft zusammen zu bleiben, obwohl er sagt, er liebe sie. In Vorbeziehungen habe er keine sexuellen Probleme gehabt. Anne wiederum fühlt sich durch seine Kälte noch weniger bereit, sich sexuell auf ihn einzulassen.

Das Paar beschreibt eine typische zirkuläre Paardynamik um sexuelle Lustunterschiede: Tobias drängt auf häufigere sexuelle Aktivität oder wendet sich bei erfolgloser Verführung frustriert emotional ab, Anne zieht sich daraufhin sexuell noch mehr zurück, was Tobias sein Verhalten noch verstärken lässt etc. Beide suchen sich vor Verletzungen zu schützen, treffen damit jedoch umso mehr die wunden Punkte des Anderen, z. B. das Gefühl, ungeliebt zu sein. Wer mit Abwehr beschäftigt ist, kann nicht begehren. Der Spiel-Raum und damit die Fähigkeit beider Partner, insbesondere aber jener der ins lustlose Extrem geratenen Frau, ihr eigenes Wollen überhaupt noch zu spüren, geschweige denn auszuleben, schrumpft unter dieser Bedingung auf ein Minimum zusammen.

  • In Annes Worten: „Dieses Gefühl, dass er immer schon da ist, und dass auch hinter jeder Umarmung eine Erektion bereitliegt, beengt mich. Dann will ich nur noch weg.“

Insbesondere bei sexuell wenig erfahrenen oder durch negative Vorerfahrungen belasteten Frauen kommt oft hinzu, dass sie auf wenig zurückgreifen können, um ihr individuelles sexuelles Wollen von den in der aktuellen Partnerschaft erfahrenen Möglichkeiten und Grenzen zu unterscheiden. Sie haben ihren individuellen erotischen Spielraum, ihr Repertoire, nicht so verfügbar, dass sie sich in der Lage fühlen, von dort aus flexibel mit sexuellen Angeboten umgehen zu können, oder gar selbst welche zu machen.

  • Anne: „Ich hatte erst einen Freund vor Tobias. Der Sex war schrecklich. Ich selbst hatte noch nie Interesse an Sex. Hab’ mich auch früher nie selbst berührt. Ich weiß ja selbst gar nicht, was mir gut tut. Alles, was mit Sex zu tun hat, erscheint mir furchtbar anstrengend.“

Das eigene erotische Territorium ist dann so fragil, dass es umso mehr beschützt werden muss. Paartherapeutisch wirft dies die Frage auf, wie so interveniert werden kann, dass der gefühlte Druck, nicht zu wissen, wie es „richtig“ geht, sich nicht noch erhöht.

1 Teile dieses Beitrags erscheinen im Frühjahr 2016 in einem von der Autorin herausgegebenen Band über weibliches Begehren in der Therapie im Carl-Auer Verlag.