Gesundheitswesen 2014; 76 - A12
DOI: 10.1055/s-0034-1386862

Die ökonomische Krise in Europa und ihre Auswirkungen auf Arbeit und Gesundheit aus Sicht des Verwirklichungschancen-Ansatzes

C Brall 1
  • 1Universität Maastricht

Einleitung: Die ökonomische Krise und die damit einhergehenden, veränderten sozialen Rahmenbedingungen führten seit Krisenbeginn im Jahre 2008 zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit in Europa. Mitunter stieg die Arbeitslosigkeit in manchen EU Staaten, wie z.B. die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien im Jahr 2012, auf bis zu über 50%. Die Arbeitslosigkeit als solche, aber auch die staatlichen Austeritätsmaßnahmen, haben verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit europäischer Bürgerinnen und Bürger. Trotz dieser starken sozialen Auswirkungen steht eine ethische Diskussion und eine Bewertung der politischen Maßnahmen sowie ihrer Konsequenzen bislang aus, sodass es umso wichtiger erscheint, dies nachzuholen und politische Handlungsoptionen nach ethischen Maßstäben zu beurteilen. Deshalb wird in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, wie sich die ökonomische Krise in Europa auf Arbeit und Gesundheit auswirkt und wie dies aus ethischer Sicht zu bewerten ist.

Methodik: Die Analyse basiert auf derzeit verfügbarer, hauptsächlich englischsprachiger Literatur des Zeitraums 2007 – 2014 zu Auswirkungen der ökonomischen Krise auf Gesundheit und Gesundheitssysteme in Europa, welche mit Hilfe des Verwirklichungschancenansatzes diskutiert wird.

Ergebnisse: Neben einer Vielzahl an psychosozialen Effekten wie finanzieller Unsicherheit oder sozialer Stigmatisierung aufgrund von Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg, hat die ökonomische Krise auch unmittelbar negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Gesamtbevölkerung im EU-Raum. Dazu gehören insbesondere psychische Erkrankungen, erhöhte Selbstmordraten, alkoholbedingte Erkrankungen und eine insgesamt gesteigerte Mortalitätsrate. Daneben führt das mit der Arbeitslosigkeit einhergehende, verringerte Einkommen zu weiteren Problemen, wie z.B. einem fehlenden Krankenversicherungsschutz und damit verbundenen Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischer (Grund-)Versorgung. Gleichzeitig bedingt ein schlechter Gesundheitszustand oft einen hohen Krankenstand der Arbeitnehmer, der wiederum – einem schwer zu durchbrechenden Teufelskreis gleich – der Arbeitslosigkeit Vorschub leistet.

Diskussion: Die ökonomische Krise und die gestiegene Arbeitslosigkeit ist Auslöser dafür, dass Verwirklichungschancen gemindert werden. Dies betrifft nicht nur Verwirklichungschancen im beruflichen Bereich, wie Chancen erfüllender Erwerbsarbeit nachzugehen, sondern auch darüber hinaus gehende Belange wie beispielsweise die Höhe der Lebenserwartung oder der persönliche Gesundheitszustand eines jeden, was jeweils aufgrund der oben aufgeführten Krankheiten eingeschränkt sein kann. Dass Gesundheit und Wohlstand sich gegenseitig beeinflussen wird in diesem Zusammenhang besonders deutlich. Dabei trägt der VA dazu bei, insbesondere unmittelbar gesundheitlich bedrohte und hilfsbedürftige gesellschaftliche Gruppen zu identifizieren und entsprechend ihrem Grad an Hilfsbedürftigkeit zu priorisieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es unter anderem in Bezug auf Gesundheit als einer relevanten Verwirklichungschance eminent wichtig, allen Bürgerinnen und Bürgern auch unter widrigen finanziellen Umständen rechtzeitigen und durchgehenden Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Nur so kann dazu beigetragen werden die betroffenen Patienten vor weiterer finanzieller Belastung und sozialem Abstieg wegen des Verlusts des Arbeitsplatzes oder einer erschwerten Rückkehr in ein Arbeitsverhältnis zu bewahren. Gerade vor diesem Hintergrund sollten aktive Arbeitsmarktprogramme trotz, sondern vielmehr gerade wegen der Wirtschaftskrise nicht vernachlässigt werden und stattdessen eine Schlüsselkomponente gerade auch der Gesundheitspolitik bilden.