Gesundheitswesen 2014; 76 - A54
DOI: 10.1055/s-0034-1386904

Konzeptbasierte geschlechterbezogene Forschung mit GKV-Daten auf der Grundlage eines sozialepidemiologischen Rahmenmodells

J Frick 1, I Jahn 1
  • 1Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS GmbH, Bremen

Hintergrund: Geschlecht ist eine zentrale Kategorie gesundheitlicher Ungleichheit [1]. Studien mit Daten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gewinnen auch in der Sozialepidemiologie zunehmend an Bedeutung. Durch den Einbezug soziodemographischer Informationen ergeben sich Untersuchungsmöglichkeiten zur sozialen Ungleichverteilung von Gesundheit/Krankheit und zur Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung [2]. In der Regel weisen GKV-Datenanalysen eine Stratifizierung nach Geschlecht auf und erfüllen somit eine Mindestanforderung für geschlechtersensible Forschung in der Epidemiologie. Geschlecht umfasst jedoch mit seinen biologischen und sozialkulturellen Dimensionen mehr als die – auf biologischer Zuordnung(Reproduktionsorgane) basierende – Differenzierung nach Frauen/Männer [3]. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit die Betrachtung des sogenannten Gendering von Lebensbedingungen mittels GKV-Daten möglich ist. Mit Gendering von Lebensbedingungen ist gemeint, dass diese (z.B. Familiensituationen, Erwerbsarbeit etc.) für Frauen/Männer (als Gruppe) Unterschiedliches bedeuten können (z.B. sog. Männer- und Frauenberufe, Probleme der Work-Privacy-Balance). Am Beispiel der Herzinsuffizienz wird untersucht, wie Geschlechteraspekte in Untersuchungen mit GKV-Daten umfassender berücksichtigt werden können.

Daten/Methodik: Grundlage ist das sozialepidemiologische Einflussfaktorenmodell zur systematischen Erklärung von gesundheitlicher Ungleichheit zwischen Männern/Frauen von Babitsch [1]. Orientiert an diesem Modell wurden in einer Literaturrecherche zunächst Geschlechteraspekte bzgl. der Herzinsuffizienz aufbereitet. Im zweiten Schritt wurden für eine geschlechtersensible Forschung relevante GKV-Variablen aus den verfügbaren Informationen in der pharmakoepidemiologischen GKV-Datenbank des Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS identifiziert und ein Untersuchungsmodell erstellt. Dieses Modell wurde für zwei exemplarische Fragestellungen zur Rehabilitation und zur Mortalität nach einer stationären Behandlung aufgrund einer Herzinsuffizienz bei Frauen/Männern empirisch untersucht.

Ergebnisse: In der Literaturrecherche konnte Wissen zum Gendering von Einflussfaktoren gewonnen werden. Zum Beispiel ist die Inanspruchnahme von Rehabilitationsangeboten mit dem Alter und den Finanzressourcen assoziiert und bei Männern/Frauen unterschiedlich [4]. In der GKV-Datenbank wurden 35 Aspekte einbezogen. Davon konnten 30 aus den Bereichen Versichertenstammdaten, Angaben zur Versicherung, ambulante und stationäre Behandlungen, Verschreibungen sowie Disease-Management-Programme dem Einflussfaktorenmodell von Babitsch zugeordnet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass für die empirische Untersuchung der o.g. Fragestellungen mit den GKV-Daten Einflussfaktoren auf allen vier Einflussebenen des Ausgangsmodells adressiert werden können. Diese sind: Aspekte der sozialen Lebenslage auf der Makroebene und ihre individuellen Auswirkungen (Bsp.: Tätigkeit, Berufsstellung, Ausbildung, Wohnort), der Zugang zum und die Versorgung durch das Gesundheitssystem auf der Mesoebene(Bsp.: Behandlungszeiten, Operationen/Prozeduren), die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung und Aspekte zum Organismus sowie zur gesundheitlichen Lage auf der Mikroebene(Bsp.: Diagnosen). Dabei können für die exemplarischen Analysevariablen anhand des recherchierten Geschlechterwissens zur Herzinsuffizienz Geschlechterbezüge und Wechselwirkungen zwischen den Modellebenen hergestellt werden.

Diskussion/Schlussfolgerungen: Das Konzept bildet einen theoriebasierten Ansatz für geschlechtersensible Forschung mit GKV-Daten. Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Einflussfaktoren vor dem Hintergrund gesundheitsbezogener sozialer Ungleichheit bei Männern und Frauen können auch bei einer begrenzten Variablenzahl in GKV-Daten mittels angepasster Modelle untersucht werden. Die Nutzung eines umfassenden theoretischen Modells ermöglicht es, eigene Forschungsresultate in einem größeren Zusammenhang einzuordnen. Es zeigt sich, dass eine geschlechterbezogene GKV-Datenanalyse nicht auf die einfache Einbeziehung der Variable Mann/Frau (z.B. Stratifizierung) beschränkt bleiben muss. Durch Einbeziehung des Genderings von Lebensbedingungen in allen Phasen des Forschungsprozesses kann die Kategorie Geschlecht in GKV-Datenanalysen systematisch berücksichtigt werden.