Gesundheitswesen 2014; 76 - A57
DOI: 10.1055/s-0034-1386907

Die Nachvollziehbarkeit von Gutachten. Ergebnisse einer Analyse von Gutachtenmängeln

J Gehrke 1, A Müller-Garnn 1
  • 1Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin

Hintergrund und Fragestellung: Medizinische Gutachten bilden im Antrags- und Leistungsfeststellungsverfahren der Deutschen Rentenversicherung die fachliche Grundlage zur Feststellung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Gutachten werden immer dann in Auftrag gegeben, wenn die vorhandenen medizinischen Fakten nicht für eine sachgerechte Verwaltungsentscheidung im Rentenverfahren ausreichend sind. Um diese Funktion zu erfüllen, muss das im Gutachten aufgezeigte Leistungsvermögen des Antragstellers nachvollziehbar dargelegt sein. Im Peer Review-Verfahren der Deutschen Rentenversicherung zur Qualitätssicherung von Gutachten ist diese Nachvollziehbarkeit über eine Argumentationskette definiert. Die einzelnen Module der Argumentationskette sind als sinnvolle Verknüpfung der einzelnen Begutachtungsschritte zu sehen, indem beispielsweise ein Brückenschlag von der Anamnese und Befunden zur Epikrise und im Weiteren von der Epikrise zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit erfolgt. Zur Argumentationsführung gehört zudem eine nachvollziehbare Darstellung der funktionellen Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen. Die Nachvollziehbarkeit eines Gutachtens ist immer dann nicht gegeben, wenn Brüche in dieser Argumentationskette auftreten. Ziel der Untersuchung war es u.a. diejenigen Stellen zu identifizieren, an denen die Argumentationskette auffallend häufig unterbrochen wird. Des Weiteren wurde der Schweregrad der Brüche für die Nachvollziehbarkeit des Gutachtens anhand einer kategorialen Bewertung erhoben.

Daten und Methodik: In der Untersuchung wurde 19 Ärzten aus den Sozialmedizinischen Diensten der Rentenversicherungsträger 260 Gutachten aus den Fachgebieten Orthopädie, Neurologie/Psychiatrie und Innere Medizin (Allgemeinmedizin) zur Bewertung vorgegeben. Aus den insgesamt 785 Bewertungen wurde in ca. der Hälfte der Fälle eine Verletzung der Nachvollziehbarkeit festgestellt, d. h. die Argumentationskette war unterbrochen. Die textlichen Begründungen, die von den Ärzten bei einem Bruch der Argumentationskette schriftlich zu kodieren waren, wurden mittels einer Inhaltsanalyse ausgewertet und kategorisiert. Ziel war es, die wesentlichen Gründe für eine fehlende bzw. unzureichende Nachvollziehbarkeit in den Gutachten zu identifizieren.

Ergebnisse: Häufigste Ursache für eine nicht nachvollziehbare Argumentationskette ist die Darstellung des Leistungsvermögens. Dieses wird in den identifzierten Fällen oft nur unzureichend begründet oder nicht eindeutig ausgeführt. Auch fehlt bei den bemängelten Gutachten die adäquate Auseinandersetzung mit Vorbefunden oder anderen Gutachten. Hinsichtlich der Leistungsbeurteilung ist auffällig, dass einzelne Befunde nicht in ausreichendem Maß berücksichtigt werden. Eine Aufgliederung der Ergebnisse nach den Fachgebieten Orthopädie, Neurologie/Psychiatrie und Innere Medizin hat keine wesentlichen Unterschiede ergeben, d. h. die aufgetretenen Mängel betreffen alle Fachgebiete in gleichem Maße. In Bezug auf die Beantwortung der gutachterlichen Fragestellungen fehlt oft eine Begründung der vom Gutachter vertretenen Leistungsminderung. Es wurde also oftmals bereits die Informationssammlung als unvollständig bewertet.

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass Brüche in der Argumentationskette vor allem beim Übergang zur Informationsbewertung und zur Beantwortung der Fragestellung auftreten. Diese sind zum Teil so schwerwiegend, dass die Ärzte, die an der Untersuchung teilgenommen haben, diese Gutachten als nicht nachvollziehbar bewertet haben.

Diskussion und Schlussfolgerung: Die Ergebnisse liefern konkrete Hinweise für die Erstellung von Gutachten, indem die Gutachter für spezifische Aspekte ihrer Argumentationsführung sensibilisiert werden können. Hierbei ist anhand der gefundenen Beispiele deutlich zu machen, welche Inhalte für die spätere Nachvollziehbarkeit der gutachterlichen Leistungsbewertung von besonderer Bedeutung sind. Wird dies bei der Begutachtung berücksichtigt, ist langfristig ein Rückgang derjenigen Gutachten zu erwarten, die Mängel in ihrer Argumentationsführung aufweisen und auf diese Weise die Qualität der sozialmedizinischen Sachaufklärung beeinträchtigen.