Gesundheitswesen 2014; 76 - A86
DOI: 10.1055/s-0034-1386936

Burnout oder Depression: Krankheitsdefinitionen im Konflikt – eine vertane Chance für Prävention im Bereich seelische Gesundheit? Ergebnisse einer qualitativen empirischen Studie zur Sichtweise von Patientenorganisationen und Expertengruppen

S Koenen 1
  • 1Universität Regensburg, Regensburg

Hintergrund: Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge leidet in der westlichen Welt etwa jeder Vierte im Laufe seines Lebens unter einer psychischen Störung. Neben medizinisch „anerkannten“ psychischen Krankheiten, wie etwa der Schizophrenie oder der Depression, macht in der jüngeren Zeit, vor allem in den Medien, das Phänomen „Burnout“ von sich reden. Dabei fällt auf, dass Burnout in Deutschland als eigenständige Diagnose bislang weder Eingang in international akzeptierten medizinischen Klassifikationssysteme gefunden hat, noch eine allgemein anerkannte Definition existiert [1]. Burnout stellt damit eine sogenannte „contested illness“ dar [2]. Zum heutigen Stand ist nicht nur der Krankheitswert des Burnout-Syndroms umstritten, es ist auch unklar, ob es sich bei der Verbreitung der Diagnose Burnout um eine Medikalisierung und damit um eine Ausweitung medizinischer Grenzen handelt. Peter Conrad hat in seiner Forschung herausgefunden, dass Patientenvertretungen und Selbsthilfegruppen in Medikalisierungsprozessen eine zunehmend wichtige Rolle spielen [3].

Die Forschungsfrage der vorliegenden Studie war deshalb: Wie positionieren sich Patientenorganisationen und Interessengruppen aus dem Bereich Depression und Burnout in der öffentlichen Diskussion zum Thema Burnout? Welche typischen Argumentationen können beobachtet werden?

Methodik: Es wurden sechs qualitative leitfadengestützte Experteninterviews (v.a. Vorstandsmitglieder/Mitarbeiter von entsprechenden Organisationen) geführt und in Anlehnung an die von Michael Meuser und Ulrike Nagel vorgeschlagene interpretative Auswertungsstrategie bearbeitet [4]. Zudem wurde eine Inhaltsanalyse von 30 Dokumenten durchgeführt. Eingeschlossen waren ausgewählte Materialien von Organisationen im Bereich Depression und Burnout im Zeitraum von 2011 bis 2014, wie Positionspapiere, Stellungnahmen, Flyer, Beiträge auf Homepages und Power-Point-Folien von Vorträgen. Ergänzt wurde das Material durch Zeitungsartikel, in denen Personen aus den organisierten Gruppen erwähnt oder direkt befragt wurden.

Ergebnisse: Als zentrales Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich das Feld der befragten Experten in zwei Lager teilt: Patientenvereinigungen und medizinisch-psychiatrischen Advocacy-Gruppen aus dem Bereich Depression setzen sich stark für eine Demedikalisierung von Burnout ein und bestreiten dessen Krankheitswert. So wird beispielsweise argumentiert, der Burnout-Begriff sei zu diffus und beruhe auf keinem wissenschaftlichen Konzept. Weiterhin wird befürchtet, das Konzept Burnout führe zu einer Trivialisierung psychischer Erkrankungen und einer neuerlichen Stigmatisierung von Depressionspatienten durch eine Einteilung in „leistungsstarke Ausgebrannte“ und „charakterschwache Depressive“. Die noch jungen Organisationen, die sich zum Thema Burnout gegründet haben, betonen hingegen erwartungsgemäß, dass Burnout eine eigenständige und ernst zu nehmende psychische Krankheit darstelle, die auch gesellschaftliche Ursachen habe. Daher sehen sie Burnout nicht allein als ein medizinisches Problem, fordern einen interdisziplinären „Netzwerk-Ansatz“ und setzen dabei stark auf Prävention. Gleichzeitig grenzen sie Burnout ihrerseits stark von Depression ab, wobei sich diskriminierende Untertöne („aktive Burnout-Patienten“ vs. „antriebsschwache Depressive“) beobachten lassen.

Diskussion: Diese Abgrenzungskämpfe zwischen Patientenorganisationen zu Depression und Burnout erschweren oder verdrängen gar die „gesellschaftliche Lesbarkeit“ einer zunehmenden gesellschaftlichen Überforderung der Individuen. Die o.g. Ergebnisse werfen die Frage auf, inwieweit eine gemeinsame Präventionsstrategie für seelische Gesundheit dadurch verhindert wird. Vor dem Hintergrund der rasant anwachsenden Zahlen an psychischen Krankheiten gerade auch bei Jüngeren sollte aber verstärkt über gesellschaftliche/strukturelle Lösungen und Präventionskonzepte nachgedacht werden.