Gesundheitswesen 2014; 76 - A128
DOI: 10.1055/s-0034-1386978

Zukunft der Sozialmedizin

E Nüchtern 1
  • 1Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK) Baden-Württemberg, Lahr im Schwarzwald

Einleitung: 50 Jahre DGSMP sind Anlass, für die praktische Sozialmedizin und Rehabilitation zu fragen: Wo stehen wir? Was muss geschehen, damit die praktische Sozialmedizin einen erfolgreichen Beitrag zur Zukunftssicherung leisten kann?

Methodik: Der Beitrag reflektiert das Selbstverständnis praktisch sozialmedizinisch tätiger Ärzte in sozialmedizinischen Diensten und Rehabilitationseinrichtungen, skizziert aktuelle Herausforderungen und stellt Forderungen für die Zukunft auf.

Ergebnisse: Was macht die sozialmedizinische Perspektive aus? Sie betrachtet die vorliegende Erkrankung und deren Auswirkungen im Sinne der ICF in der individuellen Lebenssituation; insofern ist sie individuell. Indem auch die Einflussfaktoren in sozialer und natürlicher Umwelt sowie der Person des Kranken berücksichtigt werden, ist sie umfassend. Sie berücksichtigt, dass das Erleben und Bewerten von Krankheitserscheinungen und der Umgang mit diesen die Krankheitsbewältigung moduliert. Eine sozialmedizinische Perspektive ist insbesondere bei komplexen medizinischen Sachverhalten hilfreich – für Ärzte, Patienten und Leistungsträger.

Herausforderungen für die praktische Sozialmedizin (Auswahl)

  • Patientenorientierung gewinnt in den sozialen Sicherungssystemen an Bedeutung. Wie können praktisch sozialmedizinisch tätige Ärzte Patientenorientierung stärken?

  • Eine bedarfsgerechte, passgenaue Leistungsallokation einschließlich präventiver und rehabilitativer Leistungen ist für Betroffene wie Leistungsträger von entscheidender Bedeutung angesichts von Arbeitsverdichtung, verlängerter Lebensarbeitszeit, demographischen Veränderungen. Wie kann der Bedarf an sozialmedizinischer Begutachtung und Beratung auch künftig gedeckt werden?

  • Im Gesundheitswesen dominiert eine organzentrierte Perspektive mit kostenaufwändigen medizinischen und technischen Therapieoptionen. Die Versorgung erfolgt eher angebots- als bedarfsorientiert. Leistungsträger und Leistungserbringer stehen jeweils im Wettbewerb. Ökonomische Faktoren wie Vergütungsregelungen beeinflussen ärztliches Handeln. Welche Rolle kommt unabhängigen sozialmedizinischen Sachverständigen künftig zu?

  • Die Veränderungen der Arbeitswelt betreffen auch die Arbeitsbedingungen für praktisch sozialmedizinisch tätige Ärzte. Aktenlage-Stellungnahmen ermöglichen gegenüber eigener Befunderhebung Produktivitätssteigerungen. Wie kann dies so kommuniziert werden, dass es Akzeptanz findet?

  • Die Sozialmedizin ist nicht an allen Universitäten stark repräsentiert. Teilweise bestehen gemeinsame Lehrstühle für Arbeits- und Sozialmedizin, die vorrangig arbeitsmedizinische Fragen fokussieren. Nicht alle Medizinstudenten erwerben ausreichend sozialmedizinisches Basiswissen. Die sozialmedizinische Weiterbildung kommt nur wenigen Ärzten zugute. Wie kann sozialmedizinisches Denken verbreitet werden? Was ist angesichts dieser Herausforderungen zu fordern?

  • Das sozialmedizinische Krankheitsverständnis ist Ausdruck von Patientenorientierung. Damit sich diese Sicht verbreitet, braucht es mehr sozialmedizinisch weitergebildete Ärzte! Dies ist bei der Weiterentwicklung der Weiterbildungsordnung zu berücksichtigen.

  • Sozialmedizinische Begutachtung sollte transparenter werden. Gesetzliche und institutionsinterne Vorgaben für die Kommunikation des Begutachtungsergebnisses sollten grundsätzlich auch die angemessene Information des Betroffenen einbeziehen. Damit kann das Vertrauen in die Objektivität der sozialmedizinischen Sachverständigen gestärkt werden.

  • Sozialmedizinische Begutachtungen können zum Schutz von Patienten beitragen. Sie können dem Patienten unter Umständen zu einer neuen Sicht auf seine Krankheitsauswirkungen verhelfen und Teilhabebeeinträchtigungen vermeiden helfen. Der Nutzen unabhängiger sozialmedizinischer Begutachtungen für Patienten und Leistungsträger sollte deutlicher werden.

  • Praktisch sozialmedizinisch tätige Ärzte bemerken frühzeitig, wo Weiterentwicklungsbedarf der rechtlichen Rahmenbedingungen in unseren sozialen Sicherungssystemen besteht. Entscheidungs- und Verantwortungsträger in der Politik und bei Leistungsträgern sollten praktisch sozialmedizinisch tätigen Ärzten ein Forum bieten, um ihre Erfahrungen in die Diskussions- und Entscheidungsprozesse zur Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme und in die Gesetzesfolgenabschätzung einzubringen.

  • Praktische Sozialmedizin braucht die Unterstützung durch eine in Forschung und Lehre starke universitäre Sozialmedizin. Angemessen ausgestattete Lehrstühle für Sozialmedizin sind an allen medizinischen Fakultäten erforderlich.