Gesundheitswesen 2014; 76 - A142
DOI: 10.1055/s-0034-1386992

Zwischen sozialpolitischer Wohlfühldiktatur und grenzenlosem Leistungszwang – Die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus

P Rauh 1
  • 1Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Erlangen

Besieht man sich den Forschungsstand zur Arbeit und Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus, dann lassen sich zwei vollkommen verschiedene Lesarten ausmachen, die auf den ersten Blick nicht in Einklang zu bringen sind. Auf der einen Seite wird das „Dritte Reich“ als eine „Gefälligkeitsdiktatur“ (Götz Aly) interpretiert; wobei es insbesondere die von den Nationalsozialisten umgarnte Arbeiterschaft war, die in den Genuss der sozialpolitischen Verheißungen gekommen sei. Aus arbeitsmedizinischer Sicht gingen damit ein stärkerer Arbeitsschutz, bessere betriebsmedizinische Betreuung und mehr Freizeit für die Arbeiterschaft einher. Auf der anderen Seite akzentuieren Forscher für die Arbeitsmedizin vollkommen andere Prioritäten. Sie betonen die Implementierung eines leistungsmedizinischen Paradigmas, das im „Dritten Reich“ zu einer gesundheits- aber auch sozial- wie arbeitspolitischen Säule des NS-Regimes avancierte. Hauptaufgabe der Arbeitsmedizin sei es gewesen, für eine möglichst restlose Ausnutzung der Arbeitskraft zu sorgen. In diesem Kontext wird auf das „mörderische Arbeitstempo“ (Sopade-Bericht 1938) in den Betrieben hingewiesen und den Arbeitsmedizinern unterstellt, sie hätte sich beinahe ausnahmslos in den Dienst zur Realisierung dieser radikal leistungsorientierten gesellschaftlichen Utopie gestellt. Der geplante Vortrag möchte die unterschiedlichen Forschungsrichtungen anhand des Werdegangs des Arbeitsmediziners Ernst Wilhelm Baaders (1892 – 1962) einmal diskutieren und dabei der Frage nachgehen, ob sich die beiden Erklärungsansätze tatsächlich diametral entgegenstehen oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um zwei Seiten einer Medaille handelt.