Gesundheitswesen 2014; 76 - A145
DOI: 10.1055/s-0034-1386995

Der capabilities approach/Verwirklichungschancen-Ansatz und seine Relevanz für den Bereich Arbeits- und Lebenswelt

J Ried 1
  • 1Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen

Der capabilities approach/Verwirklichungschancen-Ansatz ist ein theoretisches Modell, das Fragen der sozialen Gerechtigkeit nicht allein auf die Gewährung und Einhaltung formaler Rahmenbedingungen und Rechte bezieht, sondern liberale Ansätze ergänzend und korrigierend die faktische Möglichkeit, Rechte und Präferenzen zu artikulieren und zu realisieren fokussiert. Damit rücken unter anderem Lebens- und Arbeitswelten als Räume der Verwirklichung individueller wie sozialer Freiheiten in den Mittelpunkt. Während der Verwirklichungschancen-Ansatz in verschiedenen Bereichen der sozialen Arbeit und der Bildung bereits als Grundlagentheorie rezipiert wird, findet er beispielsweise in sozial- und präventionsmedizinisch relevanten Kontexten noch wenig Beachtung. Ziel dieses Beitrages ist es vor diesem Hintergrund, den Verwirklichungschancen-Ansatz als hermeneutische Perspektive für die Erschließung und die Diskussion normativ relevanter Fragen in modernen Arbeits- und Lebenswelten vorzustellen und mögliche sozial- und gesundheitspolitische Konsequenzen für die Gestaltung von Verwirklichungschancen in unterschiedlichen Kontexten aufzuzeigen. Im Vortrag werden zunächst die wesentlichen Stationen in der Entwicklung des capabilities approach und die prägenden Vertreter vorgestellt. Die zuerst durch den indischen Wohlfahrtsökonomen Amartya Sen vertretene Grundidee einer Komplementarität von Gerechtigkeit, konkreten Verwirklichungschancen und Freiheiten, verbunden mit einem normativen Primat derjenigen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, deren Verwirklichungschancen am wenigsten ausgeprägt sind, wurde insbesondere von der us-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum aufgegriffen und weiterentwickelt. Dabei fungiert der Begriff der capabilities unter anderem als Brücke zwischen der Dimension individueller Fähigkeiten und den konkreten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die diese befördern oder beschränken können. Von dieser theoretischen Grundlage aus kann das alle Debatten zu „sozialer Gerechtigkeit“ mitbestimmende Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Solidarität neu in den Blick genommen und im Hinblick auf konkrete Verwirklichungsräume – hier: Arbeits- und Lebenswelten – operationalisierbar gemacht werden. An dieser Stelle werden auch mögliche Anschlussstellen wie notwendige Abgrenzungen zum Konzept der „Handlungsspielräume“ zu thematisieren sein. Der Verwirklichungschancen-Ansatz kann neben seiner Funktion als Grundlagentheorie auch Kriterien für die Beurteilung von Lebens- und Arbeitswelten im Hinblick auf Fragen der jeweils (unterschwellig) propagierten Menschen- und Gesellschaftsbilder, der Gerechtigkeit und des ausgewogenen Verhältnisses von Eigenverantwortung und Solidarität bereitstellen. Von praktischer Relevanz kann dies beispielsweise in der Diskussion des anstehenden Präventionsgesetzes sein, insofern dieses konkret die Arbeitswelt als relevantes Setting adressieren wird. Aus einer dezidiert sozialmedizinischen Perspektive führt der Verwirklichungschancen-Ansatz zur Präferenz von Strategien der Verhältnisprävention, die die notwendigen Rahmenbedingungen für effektive Verhaltensprävention bereitstellen müssen. Dies lässt sich unter anderem in einem Effektivitätsvergleich von Tabakkontrolle und Adipositasprävention zeigen. Quer- wie längsschnittliche Studien aus den USA und Deutschland haben hier in den vergangenen Jahren noch einmal sehr deutlich hervorgehoben, wie die Beschränkung von Verwirklichungschancen in unterschiedlichen Lebens- und Arbeitswelten erhebliche Effekte auf sozioökonomischen und Gesundheitsstatus insbesondere auch von Kindern- und Jugendlichen haben können.