Gesundheitswesen 2014; 76 - A146
DOI: 10.1055/s-0034-1386996

Adipogene Lebens- und Arbeitswelten. Neue Erkenntnisse und Herausforderungen für die Prävention von ernährungsbezogenen Gesundheitsstörungen

J Ried 1, MJ Müller 2, S Plachta-Danielzik 2
  • 1Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
  • 2Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel

Seit mehr als dreißig Jahren ist in Deutschland in allen Altersgruppen eine zunehmende Prävalenz übergewichtiger und adipöser Personen auf aktuell mehr als 50% der Erwachsenen und rund 15% der Kinder und Jugendlichen zu beobachten. Während über lange Zeit die Antwort auf diese Entwicklung vor allem in individuumsbezogenen Ansätzen (Verhaltensprävention und Lebensstilintervention zur Modifikation des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens) gesucht wurde, treten aufgrund des åüberwiegenden Misserfolges dieser Strategien in jüngerer Zeit vermehrt sozialmedizinisch orientierte Modelle in den Vordergrund (Verhältnisprävention, community-basierte Interventionen). Ein besonderer Fokus liegt dabei zum einen auf dem Zusammenhang von Lebenswelt und Körpergewichtsentwicklung, zum anderen auf der Arbeitswelt als Ort von Gesundheitsförderung und Prävention. Die Integration vor allem extrem adipöser Jugendlicher in die Arbeitswelt markiert dabei noch einmal ein besonderes Problemfeld. Ausgehend von Untersuchungen aus den USA und der einschlägig relevanten Literatur werden vor allem die Daten zweier unterschiedlicher Studien aus Deutschland zur Diskussion gestellt: In der Kiel Obesity Prevention Study (KOPS) wurde sowohl im Quer- (N= 3440) als auch im Längsschnitt (N= 485) der Zusammenhang von Lebensweltfaktoren und Ernährungszustand untersucht. Die Studie Inside Obesity fokussiert mit einer qualitativen Methodik (autobiographisch orientierte narrative Interviews) auf die Lebens- und Arbeitswelt extrem adipöser Jugendlicher und ihrer Familien (auswertbare Datensätze derzeit N= 42). Sowohl aus den quantitativen wie aus den qualitativen Daten ergibt sich die besondere Relevanz des unmittelbaren familiären bzw. häuslichen Umfeldes bei der Ausprägung, Verstetigung und Bekämpfung einer potentiell gesundheitsschädlichen Entwicklung des Körpergewichtes. Sowohl Lebensweltfaktoren wie Verkehrsdichte, Kriminalitätsrate, soziales Niveau des Wohnbezirks, Länge des Schulweges, Anzahl und Erreichbarkeit von Freiflächen als auch Faktoren des sozialen Nahraumes wie Berufstätigkeit der Eltern oder Zusammensetzung der Haushaltsgemeinschaft sowie schließlich die Dauer und Art der Nutzung sozialer Online-Netzwerke konnten in unterschiedlichen Graden als Trigger der Adipositasgenese und als Barrieren für die Prävention identifiziert werden. Diese Ergebnisse werden durch Erkenntnisse zur Erfahrungen in der Arbeitswelt ergänzt: Die aus US-Studien bekannte Stigmatisierung adipöser Personen in der Arbeitswelt konnte in der qualitativen Erhebung als eine wesentliche, häufig durch entsprechende Erfahrungen im Bildungsbereich verstärkte Barriere für den Eintritt betroffener Jugendlicher in das Arbeitsleben bestätigt werden. Dadurch wird die soziale Mobilität extrem adipöser Jugendlicher von vornherein stark beschränkt und die Auswirkung der benannten sozialen Faktoren der Adipositasgenese bzw. der Barrieren für die Prävention intensiviert. Aus den Ergebnissen der Studien lässt sich klar ableiten, dass potentiell effektive Strategien der Prävention die wechselseitigen Bedingungen von Körpergewichtsentwicklung, Gesundheitsstatus und sozialen Faktoren aus der Lebens- und Arbeitswelt berücksichtigen müssen. Diesen Erkenntnissen entspräche eine breiter angelegte, den Wechsel von der Verhaltens- zur Verhältnisprävention vollziehende Politik der Gesundheitsförderung, zu der sich im Projekt „Präventionsgesetz“ erste, aber keinesfalls hinreichende Ansätze finden lassen. Die aufgezeigten Problemlagen lassen sich insbesondere an der Gruppe der extrem adipösen Jugendlichen demonstrieren, die damit als bisher nicht ausreichend berücksichtigte Adressaten sozialmedizinisch informierter gesellschaftlicher und politischer Bemühungen identifiziert werden können.