Gesundheitswesen 2014; 76 - A176
DOI: 10.1055/s-0034-1387026

Strukturanalyse der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe – erste Ergebnisse einer qualitativen Expertenbefragung

G Seidel 1, J Weber 1, S Werner 1, S Nickel 2, C Kofahl 1, O von dem Knesebeck 2, ML Dierks 1
  • 1Medizinische Hochschule Hannover, Hannover
  • 2Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg

Einleitung: Selbsthilfegruppen und ihre Dachorganisationen sind zu wichtigen Akteuren im deutschen Gesundheitswesen geworden. Ziel eines vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekts „Gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland – Entwicklungen, Wirkungen, Perspektiven“ (SHILD) ist es, eine Struktur- und Bedarfsanalyse der Selbsthilfe durchzuführen. Ein Teilprojekt erarbeitet Fallstudien, um einerseits die Strukturen innerhalb der Selbsthilfe zwischen den lokalen Gruppen, ihren Landes- und Bundesverbänden (vertikal), zum anderen deren Kooperationen mit anderen Akteuren im Gesundheitswesen (horizontal) abzubilden.

Daten/Methodik: Die Fallstudien basieren auf qualitativen telefonischen Experteninterviews. Zunächst wurden auf der Basis eines theoretical sampling für die Studie besonders interessierende Selbsthilfefelder ausgewählt: Diabetes, Multiple Sklerose, ADHS, Krebs, seltene Erkrankungen, Psychische Erkrankung, Suchterkrankungen. In jedem dieser Felder wurden in der vertikalen Struktur Sprecher/innen von Selbsthilfegruppen, Landes- und Bundesvorstände bzw. deren Geschäftsführer/innen, Mitarbeiter/innen von Selbsthilfekontaktstellen, der Landesarbeitsgemeinschaften der Selbsthilfe und der Selbsthilfekontaktstellen sowie von Dach- bzw. Fachverbänden befragt. Für jede der Indikationen wurde ein Bundesland als Erhebungsregion ausgewählt. Die Selbsthilfeakteure der lokalen Gruppen und der Bundes- sowie Landesebene gaben für sie relevante Stakeholder an, diese wurden ebenfalls interviewt. Die Interviews wurden aufgenommen, transkribiert und mit MAXQDA inhaltsanalytisch nach Mayring ausgewertet.

Ergebnisse: Von September 2013 bis März 2014 sind 57 telefonische Interviews mit Vertretern der Selbsthilfe und 18 Interviews mit Stakeholdern (überwiegend Ärzte) durchgeführt worden (61,3% Frauen; durchschnittlich 55,5 Jahre alt (Range 38 – 76)). Die vorgefundenen Strukturen differieren von professionell geführten Organisationen mit hauptamtlichen Mitarbeitern und Dienstleistungs- und Forschungsabteilungen bis hin zu rein ehrenamtlich agierenden Selbsthilfeorganisationen. Einige übernehmen Versorgungsaufgaben, viele Lotsenfunktionen. Manche verstehen sich als Fachverband, Informationsgeber oder Dienstleister. Fast alle qualifizieren kontinuierlich ihre Landesvorstände und die Selbsthilfegruppenleiter. Die finanzielle Ausstattung und Breitenwirkung sind abhängig vom internen Organisationsgrad, der wiederum an die Anzahl Betroffener, der krankheitsspezifischen Selbsthilfetradition sowie der (vorhandenen bzw. erreichten) gesellschaftlichen Akzeptanz des Krankheitsbildes gekoppelt scheint. Die Innenwirkung der Selbsthilfe wird in der Unterstützung der Mitglieder bei der Bewältigung einer Erkrankung gesehen, Selbsthilfe wirkt als therapieüberdauerndes Unterstützungsangebot. Die in Selbsthilfegruppen Engagierten, und das ist die Kehrseite der Medaille, manövrieren häufig entlang ihrer individuellen Belastungsgrenzen. Die Außenwirkung wird in der Kooperation mit anderen Akteuren, Organisationen und Gremien gesehen. Die Integration in Entscheidungsgremien wird grundsätzlich begrüßt, eine mögliche Intensivierung und die tatsächliche Entscheidungsbeteiligung werden unterschiedlich eingeschätzt, insbesondere fehlende personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen sind Barrieren. Diverse Kooperationspartner unterstützen und begleiten Selbsthilfeaktivitäten durch informationelle, logistische und finanzielle Beiträge, die Unterstützung ist häufig durch eigene Ziele motiviert. Besonders häufig werden Kooperationen mit Krankenhäusern und Fachärzten genannt. Nur wenige Kooperationen sind vertraglich geregelt.

Eine Herausforderung liegt in der Gewinnung neuer Mitglieder, die Selbsthilfe altert. Entsprechend werden öffentlichkeitswirksame Aktivitäten forciert. Das Internet wird dabei von einigen Selbsthilfeaktiven als nützliches Medium definiert, andere sehen dadurch die klassische Selbsthilfegruppenarbeit bedroht.

Diskussion/Schlussfolgerungen: Die Selbsthilfe stellt sich als sehr heterogene Landschaft dar, sie hat sich in einigen Teilen zu professionellen Institutionen mit ausdifferenzierten Strukturen und eigenen Dienstleistungsangeboten entwickelt, der Vernetzungsgrad im Gesundheitswesen ist hoch. Zukünftige Herausforderungen liegen in der Balance zwischen Ehrenamt und Professionalisierung, zwischen traditionellen und technikunterstützten Kommunikationsstrukturen und in der Gestaltung des anstehenden Generationswechsels.