Gesundheitswesen 2014; 76 - A210
DOI: 10.1055/s-0034-1387060

Zivilgesellschaftliches Engagement im Ernährungsbereich – Ergebnisse einer Studie zu den Motiven und zur Bedeutung von Gesundheitsaspekten aus Sicht der Aktiven bei der Organisation Slow Food

B Warrelmann 1, J Curbach 1, J Loss 1
  • 1Universität Regensburg, Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin, Regensburg

Hintergrund: Der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (1986) zufolge ist in der Gesundheitsförderung das gemeinschaftliche Engagement von Bürgern in ihrer Lebenswelt ein entscheidender Erfolgsfaktor [1]. Gesunde Ernährung stellt ein zentrales Ziel von Gesundheitsförderung dar. Aber auch außerhalb von Gesundheitsförderungsprojekten lässt sich zivilgesellschaftliches Engagement zum Thema Essen/Ernährung beobachten („food activism“). Obwohl „food activism“ in der bisherigen Forschung zum Teil sogar als wachsende soziale Bewegung beschrieben wird [2], steht die wissenschaftliche Untersuchung des Themas vor allem in Deutschland noch am Anfang.

Fragestellung: Vor diesem Hintergrund wurden in der vorliegenden Studie zwei Forschungsfragen untersucht: 1. Was sind Motive von engagierten Bürgern, sich für das Thema Essen und Ernährung einzusetzen („food activism“)? 2. Inwiefern spielen für „food activists“ Gesundheitsaspekte bei ihrem Engagement eine Rolle?

Methodik: Aufgrund der bestehenden Forschungslücke zum Thema „food activism“ wurde ein exploratives, qualitatives Forschungsdesign gewählt. Um die Forschungsfragen zu beantworten wurden semi-strukturierte Interviews (n = 10) mit Leitern der regionalen Gruppen der Organisation Slow Food Deutschland geführt. Die Leiter stellen Schlüsselpersonen für den zu untersuchenden Kontext dar. Die Organisation Slow Food wurde ausgewählt, da sie sich als eine von wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland ausschließlich mit dem Thema Essen/Ernährung befasst. Zudem handelt es sich bei Slow Food um eine mitgliederbasierte Organisation, wodurch es möglich war, die Sicht von in „bottom-up“-Aktivitäten involvierten Personen einzufangen. Die Interviews wurden anonym transkribiert und computergestützt (ATLAS.ti) mittels Inhaltsanalyse nach Mayring [3] ausgewertet.

Ergebnisse: Die Interviewpartner waren im Durchschnitt 60 Jahre alt. 9 der 10 Interviewpartner waren männlich und 8 von 10 haben einen Hochschulabschluss. Die von den Interviewpartnern genannten Motive für das Engagement zum Thema Essen/Ernährung weisen ein breites Spektrum auf. Sie lassen sich unterteilen in individuumsbezogene Motive, z.B. das Kennenlernen von Quellen für gute Lebensmittel, und gesellschaftsbezogene Motive, z.B. Kritik am industriellen Lebensmittelsystem. Gesundheit ist für das ernährungsbezogene Engagement der Interviewpartner kein zentrales Motiv. Zudem ist das Thema Gesundheit in den Augen der Befragten teilweise negativ konnotiert, da es u.a. mit Diäten und Entbehrungen beim Essen assoziiert wird. Entscheidend für gesunde Ernährung ist aus Sicht der Interviewpartner das Wissen über Herkunft der Lebensmittel sowie der Verzicht auf Gentechnik, Pestizide, Zusatzstoffe etc. bei der Herstellung von Lebensmitteln.

Schlussfolgerungen: Dass Gesundheit für das ernährungsbezogene Engagement der Interviewpartner kein zentrales Motiv darstellt, lässt sich damit begründen, dass Gesundheit häufig als individuelle Angelegenheit wahrgenommen wird und damit keinen Anlass für kollektives Engagement bietet. Bei den Interviewpartnern herrscht zudem eine krankheitsbezogene Sicht auf „gesunde Ernährung“ vor (im Sinne von „es darf nichts Schädliches enthalten“). Dieses Ergebnis lässt sich eventuell auf das relativ hohe Alter der Befragten zurückführen: Diese Altersgruppe ist mit einer pathogenetisch orientierten Denkweisen sozialisiert worden, bevor der Gesundheitsförderungsdiskurs sich gesellschaftlich etablierte. Zudem sind die Auswirkungen von Schadstoffen in Lebensmitteln greifbarer, da sie im Gegensatz zu den Auswirkungen einer langfristig ernährungsphysiologisch gesunden Ernährung unmittelbare spürbar sein können. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass neben Gesundheit verstärkt andere Zusatznutzen wie z.B. Wohlbefinden, Genuss und Gemeinschaft betont werden sollten, um Bürger für gesundheitsförderliche Interventionen im Ernährungsbereich zu gewinnen.