Gesundheitswesen 2014; 76(12): 798-799
DOI: 10.1055/s-0034-1395687
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wir Zauberlehrlinge

M. Wildner
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 December 2014 (online)

Zoom Image
Prof. Dr. med. Manfred Wildner

„Hat der alte Hexenmeister/Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister/Auch nach meinem Willen leben.…“. Die aus einem Dichterwettstreit zwischen Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe 1797 entstandene Ballade vom Zauberlehrling ist wohl den meisten Lesern vertraut. Möglicherweise kennen sie sogar jeden Vers auswendig. Der Zauberlehrling, der mit seiner noch begrenzten Geistesstärke auch einmal Wunder tun will, wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. In höchster Not kehrt glücklicherweise der Meister zurück und beendet die Situation mit dem Befehl: „In die Ecke, Besen! Besen! Seid’ s gewesen. Denn als Geister/Ruft euch nur, zu seinem Zwecke/Erst hervor der alte Meister.“ Unerfahrenheit, Überheblichkeit, vielleicht auch Wichtigtuerei und Machtrausch verbinden sich in dieser dichterischen Erzählung und führen zu einer Situation, die von Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit, von Hilfesuchen und auch von Rettung aus der Not geprägt ist.

Ist es nicht auch eine Situation, die wir im allgemeineren gesellschaftlichen Kontext, nicht zuletzt auch im Gesundheitswesen, vorfinden? Unterwegs in unserer von Menschen geschaffenen Zivilisation sind wir in Teilen doch wohl alle moderne Zauberlehrlinge. Auch wenn wir viele gesundheitlichen Risiken erfolgreich zurückgedrängt haben und damit als Zauberlehrlinge in einem sehr positiven Sinn oder gar Hexenmeister erscheinen mögen, sind wir doch weit weg von einer Welt ohne Verstrickungen, Katastrophen und Hilferufen. Dies gilt im Großen – Stichworte seien hier Migration und Flüchtlingsproblematiken, globale Epidemien und der Zusammenbruch gesundheitlicher Versorgungssysteme in Bürgerkriegen und in Staaten mit prekärer Infrastruktur – wie auch im kleineren Rahmen.

Dieser kleinere Rahmen betrifft unsere Gesellschaft mit Unfällen im Kinder- wie im Erwachsenenalter, mit Depressionen und Suiziden und mit modernen Epidemien auch an chronischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs und Stoffwechselerkrankungen sowie deren Risikofaktoren. Diese sind unter anderem Bluthochdruck, Übergewicht, Störungen der Blutfette und die verschiedenen Formen der Zuckerkrankheit. Und auch Unfälle z. B. sind keine Zufälle. Auch wenn diese Krankheitsbilder initial vielleicht weniger dramatisch in Erscheinung treten wie Kriegsfolgen und übertragbare Krankheiten, so sind sie in ihren Auswirkungen doch nicht minder folgenschwer. Manche dieser Entwicklungen können durch medizinisch-therapeutische Gegenmaßnahmen gemildert werden, andere Entwicklungen wie die Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit haben eine langfristig ungebremste und zunehmende bedrohliche Eigendynamik nicht nur in den Ländern mit entwickelten Marktwirtschaften. Für sie wurde ein eigener Begriff, nämlich der Begriff der „wicked problems“ [1], also der bösartigen bzw. nur sehr schwer anzugehenden komplexen Probleme, auch in das Gesundheitswesen übernommen.

Und wie steht es um den Bereich der medizinischen Versorgung? Haben wir hier einen geschützten Bereich, einen schützenden Hafen in den gesundheitlichen Gefahren des Lebens? Dies trifft einerseits durchaus zu, muss andererseits allerdings differenziert betrachtet werden. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden systematische Studien zu teilweise vermeidbaren Komplikationen in den stationären und ambulanten medizinischen Behandlungsverläufen durchgeführt [2] [3] [4]. Beispiele hierfür sind Medikamentennebenwirkungen, Wechselwirkungen bei Polypharmazie und Medikationsfehler, Risiken, Komplikationen und Kunstfehler bei operativen Eingriffen und nicht zuletzt Hygienefehler. Letzteres Problemfeld ist besonders tragisch. Hier fand zunächst ein sehr erfolgreichem Aufbau einer wissenschaftlichen und organisatorischen Hygieneinfrastruktur mit Zuständigkeiten von der Infektionshygiene bis zur Umwelthygiene wie der Lärmbelastung nicht zuletzt unter Beteiligung herausragender Wissenschaftler des deutschsprachigen Raumes statt. In den vergangenen Jahrzehnten war und ist im Gegensatz dazu eine schleichende Erosion mit geradezu sträflichem Rückbau entsprechender akademischer Strukturen an den Universitäten zu beobachten. Resistente Erreger im Bereich der Krankenversorgung stellen genauso wie die sogenannten re-emerging und newly emerging infections wie Tuberkulose, SARS und MeRS moderne Gesellschaften vor große Herausforderungen. Antibiotikaresistenzen sind dabei nicht nur ein mikrobiologisches Phänomen. Sie sind ganz wesentlich auch durch Praxisstile in der Human- und Veterinärmedizin und auch andere soziale Phänomene wie dem Zugang zu einer ausreichenden medizinischen Versorgung vermittelt.

Wo die Not am größten ist, ist da nicht auch Rettung nahe? Tatsächlich werden vielfältige Wege beschritten, um die Einrichtungen des Gesundheitswesens zu den sicheren Horten zu machen, als welche sie gedacht sind [5]. So hat sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland das Institut für Patientensicherheit konstituiert, welches sich mit klinisch relevanten Fragestellungen auf dem Gebiet der Patientensicherheitsforschung befasst. Seitens der Weltgesundheitsorganisation wurden nicht nur Richtlinien für Hygiene im Gesundheitswesen entwickelt, sondern insbesondere auch Checklisten für Sicherheit in der Chirurgie und anderen Fachgebieten. Für entwickelte Länder werden von der WHO als prioritäre Themen Defizite bei der Kommunikation und Koordination in Einrichtungen des Gesundheitswesens an erster Stelle genannt, verborgene Organisationsfehler stehen an zweiter Stelle, gefolgt von einer defizitorientierten und auf Tadel ausgelegten Fehler- bzw. Sicherheitskultur, dem Fehlen von aussagekräftigen Qualitätsindikatoren, sowie insbesondere Fehlern bei der Medikation sowie in der Versorgung alter und chronisch kranker Menschen [6].

Hier ist eine moderne „Kultur“ im Umgang mit Fehlern dringlich. Was in Industriezweigen wie der Luftfahrt längst selbstverständlich ist, nämlich die gründliche Analyse von Zwischenfällen ohne kurzsichtige Fokussierung auf einzelne „schuldige“ Personen, fehlt im Gesundheitswesen noch häufig. Noch immer werden Schuldige oder Sündenböcke gesucht und Fehler aus Angst und Unsicherheit unter den Teppich gekehrt – wo sie dann, im Hygienebereich in einem sehr wörtlichem Sinn, weiter ihr Unwesen treiben können. Bei einer tiefer blickenden Wahrheitssuche sind die „Schuldigen“ oft nichts anderes als Glieder einer Kausalkette, in welcher sie das vorläufige Endglied darstellen.

Die Einführung moderner Konzepte wie total-quality-management, no-fault-compensation, incident reporting und peer reviews in vertrauensgeprägter Umgebung kann nur nachdrücklich unterstützt werden. Letztlich müssen Fehler als Chancen begriffen werden, bei aller Tragik, die sie im Einzelfall für die davon betroffenen Menschen bedeuten können. Doch ist nicht eine solche Sinngebung letztlich der humanere Umgang mit derartigen Ereignissen? Ist nicht das Vertuschen und Darüber-hinweg-sehen die unangemessenere und unmenschlichere Umgangsweise? Eine Entwicklung, die in der Luftfahrt vom mythologischen Sturz des Ikarus über die tatsächlichen Abstürze der ersten Flugpioniere wie Otto Lilienthal zu einer hohen und im Vergleich der Transportmittel höchsten Sicherheit heute geführt haben, ist ein ermutigendes Beispiel.

Und nicht nur auf die offenkundigen Fehler mit direkten kausalen Zusammenhängen und unmittelbaren gesundheitlichen Folgen sollte geachtet werden. Ist es nicht auch oft ein stilles Mitverschulden in organisatorischen Zusammenhängen, ein oft unsichtbares Systemverschulden, was großes Leid verursacht? Hier sei u. a. an die Notwendigkeit einer präventiven Wende in einer ganz überwiegend kurativ ausgerichteten Medizin erinnert, an schädigende Interessenskonflikte bei den Akteuren im Gesundheitswesen, z. B. bedingt durch den Widerspruch von verengter wirtschaftlicher und verdrängter ärztlicher und humanitärer Rationalität und an technische und allokative Ineffizienzen bei der Ressourcenzuordnung.

Solchen und weiteren Fragen einer guten Stewardship im Gesundheitswesen gehen die Beiträge in diesem Heft wissenschaftlich vertieft nach: Den volkswirtschaftlichen Kosten von MRSA in Deutschland, Schäden im Zusammenhang mit Medizinprodukten, der Beschwerdebearbeitung in einem medizinischen Dienstleistungsunternehmen, der Messung der Versorgungsqualität in aktuellen S3-Leitlinien, der Frage nach einem idealen Behandlungsprozess in Mutter-/Vater-Kind-Einrichtungen, der medizinischen Versorgung in einer kassenärztlichen Bereitschaftsdienstzentrale, der Qualitätssicherung in der logopädischen Ausbildung, der Prozess- und Ergebnisqualität von Besuchsdiensten von Krebs-Selbsthilfegruppen, der Frage von Schienenlärm als Krankheitsfaktor und der Möglichkeit einer Reduktion von Straßenlärmbelästigung durch Geschwindigkeitsmessanlagen. Ein besonderes Feature sind die Empfehlungen des DNVF zu Metadaten und Verfahrensregeln zu einem Register für Register und Kohorten in diesem Heft sowie der CME-Beitrag, der eine Einführung in Kausalitätsprinzipien in der biomedizinischen Forschung gibt.

Um das Goethe-Zitat am Anfang wieder aufzugreifen: Wir alle sind wohl einerseits Zauberlehrlinge. Allerdings nicht nur: Wir sind auch berufen, die Rolle des „alten Hexenmeisters“ zu übernehmen und in unseren Zuständigkeitsbereichen die Verhältnisse verantwortlich zu gestalten und vernünftig zurecht zu rücken: „In die Ecke, Besen! Besen! Seid‘ s gewesen. …“ – dies liegt oftmals sehr wohl auch in unserer Macht. Eine moderne Übersetzung für das Gesundheitswesen? „Make healthy choices easy choices“, „Make safe settings the normality“. Eine kleine Korrektur des Goethe-Zitats sei, bei aller geschuldeter Reverenz, für den Bereich der Hygiene in diesem Zusammenhang vorgeschlagen. Die sinngemäße Übertragung auf den Gesundheits- und Hygienesektor müsste wohl heißen: „Aus der Ecke, Besen! Besen!…“ – was als Aufforderung für Besen und Hexenmeister gleichermaßen gilt.

 
  • Literatur

  • 1 Rittel H, Webber M. Dilemmas in a general theory of planning. Policy Sciences 1973; 4: 155-169
  • 2 Brennan TA, Leape LL, Laird NM et al. Incidence of Adverse Events and Negligence in Hospitalized Patients — Results of the Harvard Medical Practice Study I. N Engl J Med 1991; 324: 370-376
  • 3 Leape LL, Brennan TA, Laird NM et al. The Nature of Adverse Events in Hospitalized Patients — Results of the Harvard Medical Practice Study II. N Engl J Med 1991; 324: 377-384
  • 4 Institute of Medicine . To Err is Human: Building A Safer Health System. National Academies Press; Washington DC: 1999
  • 5 European Commission (EC). Patient Safety – Making it Happen! Luxembourg Declaration on Patient Safety. Luxembourg, 5 April 2005 URL http://ec.europa.eu/health/ph_overview/Documents/ev_20050405_rd01_en.pdf (abgerufen 03.11.2014)
  • 6 Weltgesundheitsorganisation (WHO) . Global priorities for patients safety research: better knowledge for safer care. WHO; Genf: 2009