Sprache · Stimme · Gehör 2015; 39(01): 13-14
DOI: 10.1055/s-0034-1398686
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen

Developmental Dyslexia/Dysgraphia
S. Costard
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Publication Date:
24 March 2015 (online)

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S. Costard

In den letzten Jahren sind entscheidende Erkenntnisse zu Lese- und Rechtschreibstörungen, ihren Ursachen, Diagnostik und Therapie gewonnen worden, wenn auch bisher nur sehr wenige qualitativ hochwertige Interventionsstudien vorliegen. Die deutlichen Einschränkungen im schulischen und außerschulischen Bereich, unter denen Kinder mit Entwicklungsdyslexie/-dysgrafie leiden, werden zunehmend erkannt. Ein wesentlicher Schritt ist auch die Entwicklung der „Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung“. Dies ist ein guter Anlass für ein Schwerpunktheft zum Thema „Entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen“.

Mein Interesse am Schwerpunktthema dieses Heftes ist eng mit Dr. Luise Springer (1947–2011) verknüpft, die mich vor vielen Jahren dazu anregte, konkreter über die Anwendung der modellgeleiteten Diagnostik und Therapie für entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen im deutschsprachigen Raum nachzudenken. Mittlerweile ist der modellgeleitete Ansatz mit seinem Bezug auf ein kognitives Verarbeitungsmodell für entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen fest etabliert. Es besteht aber nach wie vor ein großer Bedarf an Studien, in denen die Wirkung unterschiedlicher Therapieformenen auf das individuelle Leistungsprofil eines Kindes systematisch untersucht wird, um angemessen Therapieziele ableiten zu können. Zunehmend werden zudem entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen in transparenten Schriftsystemen wie dem deutschen mit denen in opaken Systemen wie dem englischen verglichen, und nach einer langen Phase, in der das englische Schriftsystem stark im Vordergrund stand, werden nun die Besonderheiten in transparenten Systemen fokussiert.

In dem vorliegenden Schwerpunktheft steht die wichtige Frage im Mittelpunkt, wie Risikofaktoren für entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen frühzeitig aufgedeckt werden können, um das Auftreten von Lese- und Rechtschreibstörungen zu verhindern oder ihre Ausprägung abzuschwächen. Als zentrale Risikofaktoren gelten: ein Mangel an phonologischer Bewusstheit, das Auftreten phonologischer Störungen und unterdurchschnittliche RAN-Leistungen. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Phonembewusstheit und der Rechtschreibfähigkeit. Eine starke Beeinträchtigung in der Phonembewusstheit führt zu gravierenden Problemen beim lautorientierten Schreiben. Allerdings erweist sie sich in transparenten Orthografien, in denen die meisten Kinder selbst bei leichten phonologischen Störungen noch relativ gute Leistungen im phonologisch-orientierten Schreiben zeigen, vor allem als starker Prädiktor für das orthografische Schreiben. Durch ein vorschulisches Training der phonologischen Bewusstheit wird das Risiko für die Ausbildung entwicklungsbedingter Schriftsprachstörungen vermindert. Als Prädiktoren für die spätere Lesefähigkeit gelten 2 offenbar voneinander unabhängige Faktoren: das Ausmaß der Phonembewusstheit und das schnelle automatisierte Benennen (Rapid Automatized Naming, RAN). Die Vorhersagekraft dieser beiden Faktoren ist in opaken Schriftsystemen sogar noch größer als in transparenten. Die phonologische Bewusstheit gilt als Prädiktor für die Lesegenauigkeit im frühen Leseerwerb, und ein Training der phonologischen Bewusstheit im Vorschulalter hat einen positiven Einfluss auf die spätere Lesefähigkeit. Die RAN-Fähigkeit lässt Aussagen zur Lesegeschwindigkeit bzw. zur Leseflüssigkeit zu, und sie scheint unabhängig von der Komplexität der zu verarbeitenden orthografischen Informationen zu sein. Ein Zusammenhang zwischen RAN und der späteren Rechtschreibleistung besteht offenbar nicht.

Das vorliegende Schwerpunktheft vermittelt einen Einblick in die aktuelle Forschung zu der Frage, wie das Risiko einer Entwicklungsdyslexie/-dysgrafie frühzeitig eingeschätzt werden kann. Dabei ergänzen sich die Beiträge von Schäfer et al., Pape-Neumann et al. und Schnitzler, denn in jedem Beitrag wird einer der o.g. Risikofaktoren genauer betrachtet. Dr. Blanca Schäfer und ihre Mitautorinnen zeigen, dass sich die Leistungen in der phonologischen Bewusstheit bereits im Alter von 3 Jahren messen lassen, und sie präsentieren Orientierungswerte zum Erwerb der phonologischen Bewusstheit für Kinder dieser Altersstufe. Carola Schnitzler geht der Frage nach, welche Prognose bei Kindern mit überwundenen phonologische Störungen in Bezug auf den Rechtschreib- und/oder Leseerwerb besteht. Dabei findet sie Unterschiede für das Auftreten von Rechtschreibstörungen zwischen Kindern, die in der Vergangenheit eine phonologische Verzögerung, eine konsequente phonologische Störung, eine inkonsequente phonologische Störung und/oder eine Störung auf einer weiteren sprachsystematischen Ebene aufweisen. Insgesamt wird mit den Artikeln von Schäfer et al. und Schnitzler deutlich, dass Kinder mit Beeinträchtigungen in der phonologischen Bewusstheit bzw. mit dem erhöhten Risiko hierzu bereits früh identifizierbar sind, entweder durch direkte Testung (Schäfer et al.) oder anamnestisch (Schnitzler). Die Forschergruppe um Julia Pape-Neumann findet einen Zusammenhang zwischen den Leistungen in RAN-Aufgaben und Teilleistungen des Leseprozesses wie Leseflüssigkeit und Leseverstehen, und sie stellt den Leserinnen und Lesern online eine Vorlage zur Erstellung von RAN-Profilen zur Verfügung. Im Zusammenhang mit diesen 3 Artikeln steht auch mein Beitrag zum Erscheinungsbild und zu den Möglichkeiten der Therapie bei entwicklungsbedingten Rechtschreib- und Lesestörungen.

Für die betroffenen Kinder, Eltern und die beratenden Sprachtherapeutinnen und Sprachtherapeuten steht allerdings vor allem die schwierige schulische Situation im Vordergrund. Noch immer erreichen Kinder mit Entwicklungsdyslexie /-dysgrafie derzeit häufig nicht den für sie angemessenen schulischen und beruflichen Erfolg. Und noch immer sind die Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs und des Notenschutzes an vielen Stellen nicht optimal geregelt. Deshalb freue ich mich, dass Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, einer der renommiertesten deutschsprachigen Forscher auf dem Gebiet der entwicklungsbedingten Schriftsprachstörungen und gleichzeitig Mitglied des wissenschaftlichen Beirats und Bundesbeauftragter des Bundesverbands für Legasthenie und Dyskalkulie (BVL), im Interview auf die aktuellen Probleme in der schulischen Situation der betroffenen Kinder hinweist und konkrete, umsetzbare Möglichkeiten aufzeigt, mit denen die schulische Situation verbessert werden könnte.