Gesundheitswesen 2015; 77(07): 459-465
DOI: 10.1055/s-0035-1550020
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Dortmunder Vorschlag zum praktischen Vorgehen bei unbewohnbar gewordenen Wohnungen – Untersuchung von 186 Fällen von Vermüllung, Wohnungsverwahrlosung und pathologischem Horten (Messie-Syndrom)

Management of Uninhabitable Homes – Investigation of 186 Cases of Hoarding, Domestic Neglect and Squalor in Dortmund (Germany)
T. Lenders
1   Sozialpsychiatrischer Dienst, Gesundheitsamt der Stadt Dortmund
,
J. Kuster
1   Sozialpsychiatrischer Dienst, Gesundheitsamt der Stadt Dortmund
,
R. Bispinck
1   Sozialpsychiatrischer Dienst, Gesundheitsamt der Stadt Dortmund
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Publication History

Publication Date:
30 July 2015 (online)

Zusammenfassung

Ziel: Erarbeitung eines praxisnahen und einfach umzusetzenden Konzeptes für die sozialpsychiatrische Arbeit in Fällen unbewohnbar gewordener Wohnungen.

Methode: Retrospektive Analyse von 186 Fällen des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpD) Dortmund der Jahre 2008–2012, bei denen eine desolate Wohnungssituation im Vordergrund der Fallproblematik stand.

Ergebnisse: Die Betroffenen litten an Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum psychiatrischer Krankheitsgruppen, 4 Diagnosegruppen machten mit zusammen 85% den Hauptanteil aus: Sucht (F1)=41%, Psychosen (F2)=17%, Depression (F3)=(14%) und pathologisches Horten (F 63,8 „ Messie-Syndrom“)=12%.

Der Altersgipfel lag zwischen 45 und 65 Jahren. Sehr häufig war eine isolierte Lebenssituation festzustellen (84% alleinlebend, über 90% ledig, geschieden oder verwitwet). Häufig kolportierte Vorurteile geringen Bildungsstandes konnten nicht bestätigt werden: nur 4% ohne Abschluss, 7% mit Förderschulabschluss, ansonsten regelrechte Bildungsabschlüsse. Ähnlich gilt bei der beruflichen Anamnese: über 70% der Betroffenen fassten zunächst beruflich Fuß. Bei der Erhebung der aktuellen Einkommenssituation zeigte sich jedoch, dass zum Zeitpunkt des Auftretens der katastrophalen Wohnungssituation nur noch 5% von Arbeitseinkommen lebten, 39% bezogen Rente, 44% Arbeitslosengeld (ALG) II.

Bei der Erfassung der durchgeführten sozialarbeiterischen Maßnahmen fanden sich große Unterschiede zwischen den 4 verschiedenen Haupterkrankungsgruppen: F1: Behandlung der körperlichen Begleiterkrankungen und der Sucht; F2: Psychiatrische Krankenhausbehandlung und Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung; F3: Entschärfung von Konflikten im Wohnumfeld und Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung; F63,8: Praktische direkte Hilfe der Mitarbeiter des SpD sowie Organisation von Haushaltshilfe und Entmüllung.

Die Mehrzahl der Betroffenen war zum Zeitpunkt des Auftretens der katastrophalen Wohnungssituation nicht in psychosoziale oder medizinische Hilfesysteme eingebunden, sie hatten allenfalls Kontakt zu einem Hausarzt (32%).

Das Hilfeannahmeverhalten war in allen Diagnosegruppen durch Rückzug, Krankheitssymptomatik und Widerstände erschwert. Am ausgeprägtesten war dies in der Gruppe der pathologischen Horter: Hier nahmen nur 13% der Betroffenen die angebotenen Hilfen bereitwillig an (F1: 27%, F2: 26%, F3: 38%). Dementsprechend waren in dieser Gruppe (F 63.8) die ungünstigen Outcomekategorien „nichts erreicht“ und „Wohnung verloren“ mit fast der Hälfte der Gruppe (44%) am häufigsten.

Der Anteil von Wiederholungsvermüllungen lag bei den Betroffenen mit F2 und F63,8 mit 40% doppelt so hoch wie bei den anderen beiden Diagnosegruppen.

Schlussfolgerung: Die Betroffenen zeigen eine zur Wohnungsproblematik parallele berufliche Desintegration und eine weitgehende soziale und familiäre Isolation mit resultierenden komplexen Hilfebedarfen. Die desolate Wohnsituation tritt nach oft langjährigem Verlauf einer chronischen seelischen Erkrankung auf. Sie ist weder ein eigenes Syndrom, noch Zeichen einer bestimmten psychischen Krankheit – unbewohnbar gewordene Wohnungen kommen bei schweren und langen Verläufen aller psychiatrischen Diagnosegruppen vor. Die Art der zugrundeliegenden Erkrankung hat Auswirkungen auf das Hilfeannahmeverhalten, die Prognose und die Auswahl der geeigneten sozialpsychiatrischen Maßnahmen. Deshalb präsentieren wir einen Vorschlag zum diagnosespezifischen Vorgehen ([Tab. 1]). Besonders schwierig mit sozialpsychiatrischen Interventionen erreichbar ist die Gruppe der pathologischen Horter (sog. Messies). Insbesondere Betroffene mit Psychose und pathologischem Horten benötigen die Installation langfristiger, aufsuchender Hilfen.

Abstract

Objective: To develop an intervention concept for the management of uninhabitable homes.

Methods: Retrospective analysis of 186 cases of the community mental health service in Dortmund (Germany) presenting with a destitute situation of the domestic environment as core problem.

Results: All patients suffered from psychiatric illnesses, mainly from addiction (F1: 41%), psychosis (F2: 17%), depression (F3: 17%), and hoarding disorder (F63.8: 12%). Main socio-demographic characteristics of our sample are: middle age (45–65 years, 48%), male gender (73%), isolated situation (only 7% married, 84% living alone), normal schooling (only 4% without completion of schooling, 7% attended a school for special needs), after initial integration into employment nearly all patients suffered vocational disintegration (5% employed, 44% unemployment benefit, 7% welfare, 39% pension or invalidity benefit).

Psychosocial interventions differed between the 4 main diagnostic groups: F1: treatment of dependence (rehab) and treatment of concomitant somatic diseases; F2: admission to a psychiatric hospital and implementation of guardianship; F3: mediation of conflicts with neighbours/landlords and implementation of guardianship; F63.8: direct practical help by members of the community mental health team and organisation of home help/waste disposal. In all diagnostic groups, acceptance of help was impaired due to social withdrawal, resistance and psychiatric symptoms. At 13%, compliance with help and interventions was lowest in the hoarder group (F1: 27%, F2: 26%, F3: 38%). Consequently, in this group the poor outcome categories “nothing accomplished” and “lost flat/eviction” were more frequent (44%, F1: 27%, F2: 26%, F3: 38%).

Conclusions: Concurrent to the deterioration of the domestic situation, patients suffer vocational disintegration as well as family and social isolation. Uninhabitable homes occur in the course of various severe and chronic psychiatric diseases. They don’t constitute a syndrome and they are not characteristic for one specific diagnosis. It is important to recognise the underlying psychiatric disease as diagnosis influences acceptance of help, choice of appropriate interventions, outcome and prognosis. [Tab. 1] shows our suggestion for a diagnosis differentiated approach, relating appearance of the home and behaviour of the patient to diagnosis, appropriate interventions and prognosis. Hard to reach is the group of hoarders. Patients with a psychotic illness and with hoarding disorder require implementation of long-term outreach help in their homes.

 
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