Balint Journal 2015; 16(04): 100-102
DOI: 10.1055/s-0035-1569324
Think fresh
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

IST DAS NOCH BALINT? Eine Streitschrift

Is this still Balint? – A Polemic Pamphlet
P. Herzog
1   Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Allgemeinmedizin – Psychotherapie, Schwerin
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Publikationsdatum:
11. Januar 2016 (online)

Ist das noch Balint? Diese Frage wurde auf der diesjährigen Leiter-Tagung der DBG in Wienhausen im Plenum diskutiert. Gemeint war: Steht das noch im Einklang mit dem, was Balint sich seinerzeit gedacht hat, wenn wir heute Modifikationen einführen wie Skulptur, Imagination, Psychodrama oder gruppendynamische Erkenntnisse aus dem Sitzungsverlauf nutzen? Und implizit: Würde er das missbilligen oder begrüßen? Wie in Wienhausen zu hören war, soll es in Deutschland und auf internationaler Ebene Stimmen geben, die sich gegen die Einführung neuer Elemente in die Balint-Arbeit wenden.

Also: Ist das noch Balint?
Die Antwort ist: NEIN!
Und:
Die Antwort ist JA!

Nein, weil unsere heutigen Balintgruppen natürlich keine klonartige Nachbildung der Ur-Gruppe sein können, wie Balint sie noch selbst geleitet hat. Nein, weil Balint selbst der Ansicht war, nur Analytiker könnten eine Balint-Gruppe leiten und schon die ersten „Schüler“, die ihm in der Gruppenleitung nachfolgten, nicht alle Psychoanalytiker waren [1].

Nein, weil jeder Gruppenleiter eine durch und durch subjektive Note in die Gruppe trägt, und zwar nicht nur durch das, was er sagt, sondern durch seine Haltung, die sich über ikonische Zeichenprozesse vermittelt, wie Thure von Uexküll sie beschrieben hat[1] [2].

Nein aber auch, weil die Balint-Methode in ihrem Wesen eine tiefenpsychologische Methode war und ist, und genau deswegen sich verändern muss, in dem Maß wie die Tiefenpsychologie sich verändert hat: die Theoriebildung in der Tiefenpsychologie und deren Anwendungsformen sind heute nicht mehr vergleichbar mit dem Stand der Tiefenpsychologie zu Balints Zeiten.

Noch deutlicher sind die Veränderungen, die die Psychoanalyse, wie Freud sie ursprünglich formuliert hat, im Laufe der letzten 100 Jahre durchlaufen hat. Zu Letzterem hat Balint selbst nicht unerheblich beigetragen, indem er, aufbauend auf S. Ferenczi u. a., die Psychoanalyse von einer monadischen zu einer dyadischen Sichtweise weiterentwickelt hat. Er hat damit die Grundlagen der Objektbeziehungstheorie mit auf den Weg gebracht. Diese psychoanalytische Theoriebildung Balints hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Beziehung in der Balint-Arbeit im Fokus steht und nicht allein die intrapsychische Dynamik des Patienten. Balint hat sich mit seinen neuen Ideen in den Kreisen der orthodoxen Psychoanalyse seiner Zeit nicht nur Freunde gemacht. Diese taten damals genau das, was jetzt zur Diskussion steht: Neue Ideen zu Gunsten der vermeintlich „reinen Lehre“ zu entwerten, anstatt zu überlegen, was daran schlüssig und nützlich sein könnte.

Und deswegen ist die Antwort eben auch: JA!

Ja, weil sich in der Tiefenpsychologie gerade in den letzten 20 Jahren ein weiterer Paradigmenwechsel vollzogen hat: das Primat der konfliktzentrierten Therapie hat sich geöffnet, die Erkenntnisse der Strukturdiagnostik, die Erkenntnisse der Bindungsforschung und der Säuglingsbeobachtung, die Erkenntnisse der Psychotrauma- Forschung und die Erkenntnisse der Neurobiologie haben Eingang in die praktische tiefenpsychologische, psychotherapeutische Arbeit gefunden [3]. Warum sollten diese in der gegenwärtigen praktischen Anwendung hilfreichen Erkenntnisse nicht auch in die Balint-Arbeit hineinwirken? Ein wesentliches Merkmal der Balint-Methode ist doch vor allen anderen Offenheit, so wie zu Beginn jeder Sitzung alles offen ist: es gibt nur den Referenten und das Narrativ seiner Begegnung mit einem Patienten.

Ja, weil mir meine Erfahrung aus Hunderten von Balintgruppensitzungen zeigt, dass es häufig strukturell gestörte Patienten sind, die öfter in der Basis-Versorgung als in der in der spezialisierten Psychotherapie-Praxis zu landen scheinen, und dort Probleme auf der Beziehungsebene etablieren, an denen sich Arzt wie Psychotherapeut abarbeiten. In diesen Fällen ist das Arzt-Patient-Gefüge durch Übertragungs- und Gegenübertragungs -Prozesse belastet, die sich oft nicht auf einer verbalisierbaren Ebene abspielen. Vielmehr sind Sinn der Biosemiotik nach Thure von Uexküll – ikonische Zeichenprozesse aktiv. Wenn die Gruppe hilf- oder gar sprachlos wird, können wir versuchen, das Schweigen im klassischen psychoanalytischen Sinn zu deuten. Wir können aber auch versuchen, diese jenseits der ablaufenden Prozesse ins Bewusstsein der Balint-Gruppenmitglieder zu heben. Dies gelingt z. B. durch Nutzung von imaginativen Techniken, wie sie E.T. Gendlin in seinem Konzept des „felt sense“ beschreibt und F. Lippmann sie anwendet [4]. In der Beschreibung von inneren Bildern der Teilnehmer verdeutlicht sich ihr gegenwärtig implizites Erleben. Für die wortlosen Handlungsdialoge[2] [5] [6], die oft auf frühe Störungen hinweisen und die im besten Falle zu einem „Flash-Phänomen“ zwischen Arzt und Patient führen [7], besteht seitens der Tiefenpsychologie ohnehin ein gewisser Erklärungsnotstand [8].

Ja, weil es gelegentlich den einen oder anderen Kinderpsychiater in meinen Balint-Gruppen gibt, der regelmäßig ein ganzes Familiensystem als „Patient“ mitbringt. Gerade dann zeigt sich die Erweiterung um Skulptur, wie H. Otten sie schon oft auf den Tagungen der DBG demonstriert hat, als hilfreiche Methode [9].

Ja, weil gerade die Skulpturarbeit ein ureigenes Anliegen Balints umsetzt, nämlich die Auswirkung des sozialen Systems auf den Patienten einzubeziehen und die Arzt-Patient-Beziehung in ihrem sozialen Kontext im Sinne der Balintschen Gesamtdiagnose [10] zu erfassen.

Ja, weil Balint selbst das Projekt „training cum research in relationship“ nannte [11] [12] Was soll bei research, also Forschung, herauskommen, wenn nicht etwas Neues? An Balints originellem Ansatz, zeigt sich historisch, dass sich das, was taugt, auch durchsetzt.

Ja, weil Balint vehement für die Aufhebung des Lehrer-Schüler- Verhältnisses plädiert hat [13]. Er hat die Kompetenz des Hausarztes mit der Kompetenz des Facharztes gleichgesetzt und dies auch für die Balint-Gruppe und deren Leiter postuliert: nicht nur die Hausärzte in der Gruppe sollten vom leitenden Analytiker lernen, sondern auch der Leiter von den teilnehmenden Hausärzten. Er betonte, dass auch der Leiter Fehler machen darf. Balint ermunterte dazu, es zuzulassen, dass die Gruppe den Leiter kritisiert, ja er verlangte von einem guten Leiter, dass er das aushält [14].

Ja, weil der Versuch, mit Neuerungen zu experimentieren, der Balint’schen Aufforderung: „Think fresh!“ entspricht. Frisches, freches Denken hält sich nicht an allzu starre Regeln. Das gilt auch für Gruppenleiter! Wer lange Erfahrung in der Leitung von Balint-Gruppen gesammelt hat, wird zustimmen: Jede Gruppensitzung ist ein Unikat. Und: manch eine Intervention des Gruppenleiters und manch eine Änderung des „üblichen“ Settings scheint für Beobachter oder auch Teilnehmer an der einen oder anderen Stelle so auszusehen, als widersprächen sie zunächst einer (nirgendwo festgeschriebenen, unausgesprochenen) Regel. Gut möglich, dass der Leiter gar bei sich selber denkt: „Das hätte ich jetzt besser nicht getan!“ oder „Hätte ich doch vor 3 Minuten….“. Nach Großgruppensitzungen schlägt nach der Sitzung nicht selten die Stunde der „besseren Leiter“, die hinterher genau wissen, wie man an dieser oder jener Stelle die bessere Intervention gemacht oder die schlechtere unterlassen hätte. Am Ende aber ist es immer der Referent, der die Sitzung validiert. Nach meiner Erfahrung war es oft gerade die unkonventionelle Intervention „aus dem Bauch heraus“ oder eben auch das intuitive Lassen einer Intervention, die für den Gruppenverlauf zu einer Wende und für den Referenten auf eine neue Erkenntnisebene geführt hat.

Heißt das nun: Alles was neu ist, ist gut? An dieser Stelle: ein klares Nein.

Bei allem Neuen, was wir experimentell in die Balint-Arbeit einführen, sollten wir Bedacht abwägen, aus welchem Motiv wir etwas verändern wollen. Forschung und Experimente folgen meistens der Erfahrung, dass ein ungelöstes Problem vorliegt, dass es eine Schwierigkeit gibt, dass etwas mühsam ist, dass ein Ergebnis nicht befriedigt. Die Erprobung einer Neuerung setzt also voraus, dass wir zumindest die Hypothese haben, damit ein Problem lösen zu können, auf das es bislang keine befriedigende Antwort gegeben hat. Anders ausgedrückt, auf die Erfahrung eines Mangels folgt der Wunsch zu experimentieren, um den Mangel zu beheben. Danach kommt die Bewertung: funktioniert das, was wir anders machen, oder nicht? Die Bedingung für ein Experiment wäre also die Frage: In welchen Situationen in der Balint-Gruppen-Arbeit ist es für den Leiter schwierig und für die Gruppe anstrengend oder frustrierend? Welche Neuerung könnte hier Abhilfe schaffen?

Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, 2 Beispiele:

    • Problem: Die oben erwähnten Fallgeschichten von schwer strukturell gestörten Patienten hatten früher in meinen Gruppen nicht selten frustrierende Sitzungsverläufe zur Folge. So wie der schwer strukturgestörte Patient selbst nicht von Deutungen profitiert [15] profitiert auch die Balint-Gruppe – als Widerspiegelung dieser Strukturstörung in der Arzt-Patient-Beziehung – nicht immer davon, wenn der Gruppenleiter deutend interveniert. So kam es oft zu zähen Verläufen, in denen es nicht so richtig weitergehen wollte und am Ende der Referent genauso ratlos schien wie am Anfang.

    • Experiment: Der Einsatz imaginativer Techniken. Die bei den Teilnehmern spontan aus ihrem Unbewussten aufsteigenden Bilder werden in der Gruppe wie ein Teil des Fallnarrativs bearbeitet

    • Bewertung: Imaginative Techniken können z. B. bei festgefahrenem Gruppengespräch oder nicht auflösbarem Schweigen jenseits der verbalen Ebene neue entscheidende Impulse für den Gruppen- und Erkenntnisprozess liefern. Auf diese Weise wird eine Rückkehr von der impliziten nonverbalen zur expliziten verbalen Ebene ermöglicht. In der Beschreibung des inneren Bildes, das direkt aus dem Unbewussten jedes Teilnehmers auftaucht, wird es möglich, das auszusprechen, was in der Arzt-Patient-Beziehung und in der Gruppe abgewehrt oder gar abgespalten werden musste.

    • Problem: Die Fallgeschichten, in denen ganze „soziale Beziehungsnetze als Patient“ vorgestellt wurden. Die Folge war oft, dass die Gruppensitzungen „zerfaserten“. Nicht die Gegenübertragungsaspekte der Beziehung einer Person zu ihrem Arzt fächern sich in diesen Sitzungen auf “wie in einem Prisma“ [16] sondern das dysfunktionale Beziehungsnetz des Patienten. Jedes Gruppenmitglied reagiert auf einen anderen Akteur im Beziehungsnetz, was am Ende alle Gruppenmitglieder ratlos zurücklässt, weil die Verknüpfung der vereinzelten Beziehungsstränge nicht gelingt

    • Experiment: Einsatz der Skulpturtechnik.

    • Bewertung: Die Skulptur erfasst den im kognitiven Unbewussten (Piaget) des Referenten gespeicherten systemischen Aspekt der Arzt-Patient Beziehung und verdeutlicht ihn als „ikonisches Zeichen“, das oft mit einem Blick das Geschehen für die Gruppe wie für den Referenten erhellt [17]. Wohl überlegt sollte auch die Frage sein, ob es vor dem Hintergrund der gegenwärtigen tiefenpsychologischen Theorie einen Platz für das Neue geben kann, der nicht deren Grundlagen aus den Angeln hebt, sondern sich integrieren lässt in ein bewährtes theoretisches Konstrukt. Bei den beiden beispielhaft genannten Neuerungen fällt dies nicht schwer:

    • Beide bauen inhaltlich darauf auf, was aus dem Unbewussten des vorgestellten Patienten über die Arzt-Patient-Beziehung ins Unbewusste des Referenten gelangt ist.

    • Beide helfen, das Unaussprechliche in Worte zu fassen. Die Tiefenpsychologie hat die Begrenzung auf das Aussprechbare längst verlassen und beschäftigt sich mit „der Szene“ und mit „Handlungsdialogen“ [18] [19]. Solange der tiefenpsychologische Kontext gewährleistet ist, fällt es (mir) nicht schwer, zu sagen: Ja, das ist Balint!

Beispiele für das Gegenteil: „Interaktionelle Fallgruppen“ sind abgeleitet aus der kognitiven Verhaltenstherapie und damit dem theoretischen Hintergrund der Lerntheorie zuzuordnen [20].„Reflektierte Kasuistik“ nach Thure von Uexküll [21] baut theoretisch auf Konstruktivismus, Systemtheorie und Semiotik auf. So wertvoll diese Methoden für sich genommen sind, sie sind eben aufgrund eines deutlich differenten Theoriehintergrunds keine Balint-Arbeit.

Neue Wege zu erproben soll nicht zum Zwang werden. Aber ohne Zweifel bieten sie die Chance, die Gruppenleitungskompetenz zu erweitern, das Gute noch besser zu machen.

Wenn also der Balint‘sche Ansatz „training cum research in relationship“ und die Aufforderung „think fresh“ Bestand haben sollen, sehe ich keinen Grund, voller Bedenken auf Neues zu blicken, nur weil es im „Experimentierstadium“ erst einmal verunsichert und das Gewohnte in Frage stellt.

 
  • Literatur

  • 1 Clyne MB. Michael Balints Leistung für die Allgemeinmedizin. In: Hahn P. (Hrsg.). Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd.9. Zürich; 1979: 1345
  • 2 von Uexküll Th. Eine kurze Einführung in die Zeichenlehre. In: Hontschik B, Bertram W, Geigges W. (Hrsg) Auf der Suche nach der verlorenen Kunst des Heilens. Stuttgart: 2013. 25ff
  • 3 Boll-Klatt A, Kohrs M. Praxis der psychodynamischen Psychotherapie. Stuttgart: 2014. 213ff
  • 4 Lippmann F. Selbstsorge – (k)ein Thema für Ärzte. Balintjournal 2012; 13: 97-130
  • 5 Stern D. Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta. Stuttgart: 1992
  • 6 Stern D. Der Gegenwartsmoment – Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt/M: 2005
  • 7 Balint E. Die Flash-Technik. In: Balint M, Norell JS. Fünf Minuten pro Patient. Frankfurt/M: 1975. 63ff
  • 8 Herzog P. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit von Körper und Seele in der Heilkunde. Balintjournal 2011; 12: 33-47
  • 9 Otten H. Professionelle Beziehungen. Heidelberg: 2012: 80
  • 10 Clyne MB. Die Diagnose. in: Balint M, Norell JS. Fünf Minuten pro Patient. Frankfurt/M: 1975: 115
  • 11 Balint M. The structure of the training-cum research-seminars J Coll Gen Pract 1969; 17: 201
  • 12 Luban-Plozza B, Otten H, Petzold U, Petzold ER. Grundlagen der Balintarbeit. Beziehungsdiagnostik und -therapie. Leinfelden-Echterdingen: 1998
  • 13 Balint M. Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. 4.Aufl. Stuttgart: 1976. 133 ff
  • 14 Balint M. Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. 4.Aufl. Stuttgart: 1976: 409
  • 15 Rudolf G. Strukturbezogene Psychotherapie. Stuttgart: 2006. 90ff
  • 16 Loch W. Theorie und Praxis von Balintgruppen. Tübingen: 1995
  • 17 von Uexküll T, Wesiack W. Integrierte Medizin als Gesamtkonzept der Heilkunde: ein bio-psycho-soziales Modell. in: Adler R, Herrmann JM, Köhle K, Langewitz W, Schonecke OW, von Uexküll T, Wesiack W. (Hrsg.) Uexküll Psychosomatische Medizin. 6. Auflage. München: 2003. 21ff
  • 18 Lorenzer A. Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: 1970. siehe auch: Argelander H Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt; 1970
  • 19 Ermann M. Psychoanalyse heute. Entwicklungen seit 1975 und aktuelle Bilanz. Stuttgart: 2010: 70
  • 20 Was ist Interaktionsbezogene Fallarbeit?. Internetseite der IFA-Gesellschaft im Verband für Integrative Verhaltenstherapie e. V. (VIVT) Stand 05.08.2015
  • 21 Herzog P. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit von Körper und Seele in der Heilkunde. Balintjournal 2011; 12 14ff