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DOI: 10.1055/s-0036-1571412
Wann kommt das Kind? Medizinhistorische Überlegungen zum richtigen Geburtstermin
Zu den Gründen, wofür die Bestimmung des Geburtstermins im Laufe der Jahrhunderte benötigt wurde, zählen der Nachweis einer Vaterschaft außerhalb der Ehe und die anstehende Aufnahme in einer Entbindungsanstalt. Johannes von Muralt (1645 – 1733), als Stadtarzt in Zürich für die Aufsicht über das Hebammenwesen zuständig, ging in seinem Hebammenlehrbuch von 1697 davon aus, dass zum einen die Schwangeren für die Errechnung ihres Geburtstermin selbst zuständig waren und dass zum anderen eine Schwangerschaft nicht länger als zehn Monate dauere. Im Jahre 1701 übergab er dem sogenannten Ehegericht ein von ihm konzipiertes Gravidarium, mithilfe dessen genauere Fragen zum möglichen Vater eines außerehelich geborenen Kindes gestellt werden konnten. Dieses „Geburtsrad“ war auf eine Schwangerschaftsdauer von 278 Tagen von Konzeption bis Geburt eingestellt (Boschung 1979). Etwa 100 Jahre später verbreitete Franz Carl Naegele (1778 – 1851) die später nach ihm benannte Rechenregel zur Bestimmung des Geburtstermins. Er zitiert sie nach einem Werk von Hermann Boerhaave (1668 – 1738) von 1744. Dieser hatte seine Vorlesungsinhalte nie selbst veröffentlicht. Das von Naegele zitierte Werk ist eine Bearbeitung von Albrecht von Haller (1708 – 1777) – somit könnte es sich um eine Regel von Boerhaave oder von einem anderen Autor oder von Haller selbst handeln. Es gab unter den Geburtshelfern in der Vergangenheit einige Verwirrung, ob Naegele den ersten oder den letzten Tag der Regel meinte, doch ist in der siebten Auflage seines Lehrbuches von 1847 klar ersichtlich, dass Naegele den ersten Tag der letzten Regel meinte (Loytved et al. 2009). Friedrich Benjamin Osiander (1759 – 1822), Leiter der Göttinger Entbindungslehranstalt, führte zu fast jeder anfallenden Geburt an, wann die Schwangere mit der Geburt rechnete. Bei einer solchen Befragung gaben die Schwangeren offenbar gern einen früheren Termin an, denn sie wurden nur kurz vor der Geburt in die Anstalt aufgenommen (Schlumbohm 2012: 257). Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich, dass bei der Geschichte der Berechnung des Geburtstermins auch eine soziale Komponente mitzudenken ist.
Quellen: Boschung, U. 1979 Johannes von Muralts „Geburts-Tafel“. Zur Geschichte der Berechnung des Geburtstermins. Gesnerus 36: 1 – 20; Loytved C., Bosch C., Berger C. und Gutjahr K. 2009 Was meinte Naegele mit seiner Regel? In: Die Hebamme 4: 142 – 148; Schlumbohm, J. 2012 Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751 – 1830. Göttingen