Geburtshilfe Frauenheilkd 2016; 76 - A21
DOI: 10.1055/s-0036-1571418

Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion – ärztliche Hilfeleistung oder Grenzüberschreitung?

S Tschudin 1
  • 1Abteilung Gynäkologische Sozialmedizin/Psychosomatik, Frauenklinik Universitätsspital Basel, Schweiz

Der Bevölkerungsanteil mit islamischem Hintergrund ist in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz, Deutschland und den umliegenden europäischen Ländern stetig gewachsen. Eine Folge davon ist, dass FrauenärztInnen in zunehmendem Masse mit dem Wunsch nach Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion konfrontiert sind. Die weiblichen Nachkommen der genannten Einwanderungsgruppe sehen sich damit konfrontiert, dass ihre Herkunftskultur die Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit fordert, während in der westlichen Kultur voreheliche sexuelle Erfahrungen erlaubt sind. Mit zunehmender Anpassung an die Lebensweise des Gastlandes nimmt auch die Anzahl an jungen Frauen zu, die trotz des Verbotes durch ihre Eltern, sexuelle Beziehungen vor der Ehe eingehen. Wenn später eine traditionelle Hochzeit mit einem Partner islamischen Glaubens erfolgen soll, geraten sie unter einen enormen emotionalen und gesellschaftlichen Druck. Die Begegnung mit einer jungen Frau, die sich in ihrer Not an uns wendet, fordert uns menschlich wie fachlich. Gleichzeitig gibt es wenig, an dem wir uns bei der Beratung und Betreuung dieser Frauen orientieren können. Weder können wir auf medizinische Richtlinien zurückgreifen, noch gibt es klare rechtliche Weisungen, und auch die Literatur zu diesem tabuisierten Thema ist dürftig.

Eine 2004 an den gynäkologisch-geburtshilflichen Kliniken der deutschen und französischen Schweiz durchgeführt Querschnittbefragung zeigte, dass es sich bei der Hymenrekonstruktion um einen in der Schweiz selten durchgeführten Eingriff handelt und es kein einheitliches Konzept zum Vorgehen beim Wunsch nach Hymenrekonstruktion gibt, insbesondere was die Indikationsstellung aber auch die Finanzierungsfrage anbelangt. Mittlerweile hat die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sich in einem Expertenbrief für ihre Mitglieder klar dazu geäussert, dass die Medikalisierung eines kulturellen Problems abzulehnen sei und die Wiederherstellung der „Jungfräulichkeit“ hierzulande nicht zu den Aufgaben der Medizin gehört. Die Erfahrungen aus der eigenen Klinik haben gezeigt, dass es hilfreich ist hausinterne Grundsätze festzulegen, die richtungsweisend sind für das Vorgehen beim Wunsch nach Virginitätsbescheinigung und Hymenrekonstruktion. Gleichzeitig sollte die Herangehensweise aber individuell angepasst sein und auf jeden Fall die mögliche Gefährdung einer Patientin mitberücksichtigen. Ob solche, in erster Linie erfahrungsbasierte Vorgehensweisen zweckdienlich und hilfreich sind, sollte Gegenstand weiterer Forschung zum Thema sein.