Zeitschrift für Phytotherapie 2016; 37 - V06
DOI: 10.1055/s-0036-1584431

Von der Erfahrungsheilkunde zur modernen Phytotherapie – was macht eine Pflanze zur Heilpflanze?

M Keusgen 1
  • 1Fachbereich Pharmazie, Philipps-Universität Marburg, Deutschland

So lang es die Menschheit gibt, werden pflanzliche Materialien zur Erhaltung der Gesundheit verwendet; der gezielte Nutzen von bestimmten Pflanzen ist aber auch im Tierreich anzutreffen. Noch heute wird in ursprünglichen Kulturen das Wissen über Heilpflanzen mündlich von Generation zu Generation weitergegeben, wobei den Frauen und Mädchen eine besondere Bedeutung bei der Wissensweitergabe zukommt. Von einigen antiken Schriften abgesehen, gibt es erst seit dem Mittelalter in unterschiedlichen östlichen und europäischen Kulturkreisen schriftliche Aufzeichnungen, die bis heute erhalten geblieben sind. Doch erst mit der Einführung der binären Pflanzennomenklatur durch Carl von Linné war eine nahezu zweifelsfreie Zuordnung von traditioneller Anwendung zu einer oder mehreren Pflanzen möglich.

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts rückte die Erkenntnis mehr und mehr in den Vordergrund, dass auch die traditionell überlieferte Wirkung einer Arzneipflanze an chemischen Inhaltsstoffen festgemacht werden kann. Im gleichen Zug gelang die Isolierung stark wirksamer Pflanzeninhaltsstoffe, zumeist Alkaloide, die dann in Reinform eingesetzt wurden und definitionsgemäß keine Phytotherapeutika sind. Jedoch erlaubte erst die Einführung der Chromatografie in den 1960er-Jahren eine aussagekräftige Charakterisierung des Inhaltsstoffprofils einer Arzneipflanze. Unter Einbeziehung von In-vitro- und In-vivo-Studien gelang es zunehmend, die Wirkung vieler Arzneipflanzen an bestimmten Inhaltsstoffen oder auch Inhaltsstoffgruppen festzumachen. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für viele Pflanzen noch keine abschließende Erkenntnis zum Wirkmechanismus und zu den wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen gibt.

Aus heutiger Sicht gibt es unterschiedliche Stufen der Evidenz in der Phytotherapie: Eine hohe Evidenz liegt vor, wenn die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe bekannt sind und die therapeutische Wirksamkeit durch aussagekräftige klinische Studien belegt ist. Häufig ist aber auch der Fall anzutreffen, dass die Wirksamkeit gut belegt ist, aber die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe nur unzulänglich bekannt sind. Hier wird die Qualität der zugrundeliegenden Arzneipflanze zumeist über Qualitätsmarker definiert. Eine niedrigere Evidenzstufe liegt vor, wenn der traditionelle Nutzen einer Arzneipflanze hinreichend belegt ist, aber klinische Daten zur Wirksamkeit nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind.

Ziel der modernen Arzneipflanzenforschung ist es, die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe einer Arzneipflanze zu identifizieren und den Wirkmechanismus aufzuklären („Pharmakologische Wirkung“). Anschließend kann die therapeutische Wirksamkeit durch aussagekräftige klinische Studien belegt werden. Wichtig ist hierbei auch die Ermittlung einer wirksamen Dosis. Hierzu ist es in der Regel erforderlich, dass das wirksame Prinzip einer Arzneipflanze durch Extraktion angereichert wird, was ein maßgebliches Kriterium für ein modernes Phytotherapeutikum ist. Dieses ist auch der vielleicht auffälligste Unterschied zu Arzneipflanzenzubereitungen in der Erfahrungsheilkunde, wo Teeaufgüsse eine dominante Rolle spielen, auch wenn Prozesse wie Destillation, Auskochen und Fermentation schon seit dem Altertum bekannt sind. Selbst in unserer modernen Zeit sind nur die wichtigsten Arzneipflanzen ausreichend untersucht, was viele Gründe hat: Komplexe Inhaltsstoffprofile, komplexe Assays und unzureichende klinische Testung. Insbesondere wird für phytotherapeutische Forschung weltweit viel zu wenig Geld zur Verfügung gestellt, was dem Stellenwert der „grünen Medizin“ in der Gesellschaft in keiner Weise gerecht wird.

Der Beitrag ist Herrn Prof. Dr. Heinz Schilcher für sein Lebenswerk und seine Verdienste in der Phytotherapie gewidmet.