Zeitschrift für Phytotherapie 2016; 37 - V14
DOI: 10.1055/s-0036-1584439

Ethnomedizinische pflanzliche Heilmittel: botanische Variabilität und trotzdem gleichbleibendes Wirkprofil

H Schwabl 1, C Vennos 1, R Saller 2
  • 1Padma AG, Wetzikon, Schweiz
  • 2Universität Zürich, Schweiz

Tibetische Rezepturen als Prototypen ethnomedizinischer Heilmittel bestehen aus einer Vielzahl hauptsächlich pflanzlicher Komponenten. Den in der tibetischen Pharmakologie und Arzneimittellehre definierten Arzneistoffen wird durch eine Vielfalt sensorischer Qualitäten ein spezifisches funktionelles Wirkprofil zugeordnet [1]. Es ist hervorzuheben, dass einem tibetischen Substanznamen eine Reihe möglicher botanischer Spezies zugeordnet werden kann, oft sogar aus unterschiedlichen Gattungen. Aufgrund der funktionellen Zuordnung ist eine solche botanische Plastizität mit einem robusten, d.h. gleichbleibenden Wirkprofil verknüpft [2]. Ein Beispiel ist die Familie der Agar-Rezepturen, die bei sogenannten „rLung“ (Wind)-Störungen eingesetzt werden. Sie umfassen Symptomkomplexe wie Nervosität, Schlafstörungen, Depression, Reizbarkeit und innere Unruhe, aber auch somatische und vegetative Folgen von Stress. Als namensgebende Komponente der Rezepturfamilie „A ga ru“ steht üblicherweise das Holz von Aquilaria spp. Ein funktionell vergleichbares Wirkspektrum besitzen auch Agar-Rezepturen mit Guaiacum spp., Cinnamomum spp., Syringa spp., und sogar Carum carvi L. Da sich diese chemisch-analytisch deutlich voneinander unterscheiden, würde der konventionelle Ansatz allein über die Inhaltsstoffanalyse die authentischen Gestaltungsmöglichkeiten solcher Rezepturen einschränken.

Die Plastizität dieser Multikomponenten-Mischungen betont, dass nicht die Summe der einzelnen Inhaltsstoffe allein die Wirkung charakterisiert. Es ist das Netzwerk funktioneller Interaktionen, das trotz unterschiedlichem botanischen Aufbau in sich geschlossen und robust bleibt. Das Geflecht der funktionellen Interaktionen (multiple pleiotrope Signatur) wirkt als flexibles Netzwerk auf die zahlreichen Targets des Organismus ein [3]. Multikomponenten-Mischungen können als Prototypen der herbal network pharmacology erforscht und damit bei komplexen Krankheitsbildern adäquat evaluiert werden. Eine Berücksichtigung dieser traditionellen Charakterisierung und damit ein qualifizierter Austausch pflanzlicher Wirkstoffe könnte weiters Lösungen bieten für Probleme wie Ausbeutung biologischer Ressourcen oder Artenschutz.

[1] Kletter C, Kriechbaum M. Tibetan Medicinal Plants. Medpharm, Stuttgart, 2001

[2] Schwabl H, Vennos C. J Ethnopharmacol 2015; 167: 108 – 114

[3] Schwabl H et al. Forsch Komplementmed 2013; 20 (Suppl 2): 35 – 40