Suchttherapie 2017; 18(S 01): S1-S72
DOI: 10.1055/s-0037-1604570
Symposien
S-18 Positionen zu Internetbezogenen Störungen: State-of-the-Art
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was benötigen wir für eine solide Diagnostik der Internetbezogenen Störung? Aktueller Stand und Blick in die Zukunft

HJ Rumpf
1   Universität zu Lübeck, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
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Publication History

Publication Date:
08 August 2017 (online)

 

Einleitung:

Internetbezogene Störungen erfahren eine vermehrte Aufmerksamkeit in Forschung und Praxis. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien zu Prävalenz, Bedingungs- und Begleitfaktoren sowie Auswirkungen exzessiver Internetnutzung publiziert worden. Grundlage solcher Forschungsansätze sollte stets eine valide und reliable Charakterisierung der zugrundeliegenden Störung sein. Eine Fülle von Verfahren wurde hierzu entwickelt, die in diesem Beitrag auf ihre Güte geprüft werden.

Methodik:

Auf Basis einer Literaturübersicht wird der Stand der diagnostischen Güte im Bereich Erfassung der Internetbezogenen Störungen dargestellt. Dieser wird in Beziehung zu dem Stand bei Substanzbezogenen Störungen gesetzt.

Ergebnisse:

Im Bereich der Internetbezogenen Störungen ist eine Vielzahl von Instrumenten entwickelt worden, die in der Regel aus Fragebogen-Verfahren zur Selbstbeurteilung bestehen. Diese Tests haben unterschiedliche Störungsmodelle als Grundlage. Zu den häufigen Grundlagen gehören die Merkmale des Pathologischen Glücksspielens aus dem DSM-IV und die Kriterien der Internet Gaming Disorders des DSM-5 sowie die Merkmale des Sechs-Komponenten-Modells von Griffith. Abhängig vom jeweiligen Modell werden in der Regel alle enthaltenen Kriterien mit einem oder zwei Items abgefragt. Die Validierung der Verfahren ist häufig ungenügend und erfolgt meist ausschließlich faktorenanalytisch, Außenkriterien – insbesondere klinische Merkmale oder Beeinträchtigungsmaße – werden selten genutzt. Die Reliabilität wird fast ausschließlich über die interne Konsistenz und nicht über Test-Retest-Verfahren bestimmt. Auch die Screeningverfahren bilden in der Regel alle Kriterien des Modells ab, was jedoch für einen Siebtest nicht erforderlich ist und seine diskriminatorischen Eigenschaften verschlechtern kann. Klinische halb- oder vollstrukturierte Interviews sind selten. Damit bleibt die Forschung im Bereich der Internetbezogenen Störungen hinter den Standards zurück, die bei der Diagnostik von Substanzbezogenen Störungen oder auch anderen psychischen Erkrankungen üblich sind.

Schlussfolgerung:

Die diagnostischen Ansätze bei Internetbezogenen Störungen sind in der Vielzahl der Studien als methodisch schwach anzusehen. Es fehlen gute Validierungsstudien an repräsentativen Samples und mit klinischen Außenkriterien. Insbesondere fehlt es an klinischen Interviews. Die meisten Verfahren sind eher als Screening zu verstehen und beinhalten damit falsch negative, insbesondere aber auch falsch positive Befunde, was zu einem deutlichen Bias insbesondere in Prävalenzstudien aber auch anderen Analysen führen kann. Weiterhin ist die Nutzung einheitlicher Verfahren dringend geboten, um die Vergleichbarkeit von Studien zu ermöglichen. Die Überwindung der klassifikatorischen und diagnostischen Schwächen wird als eine der wichtigen Herausforderungen für die zukünftige Erforschung dieser neuen Störungen angesehen.