Suchttherapie 2017; 18(S 01): S1-S72
DOI: 10.1055/s-0037-1604610
Symposien
S-29 Alkoholstörungen: Forschung und Praxis
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Höhere Alkoholvulnerabilität bei Frauen – ein klassisches Simpson-Artefakt?

A Uhl
1   Kompetenzzentrum Sucht – Gesundheit Österreich GmbH
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. August 2017 (online)

 

Einleitung:

Bei Frauen verläuft die Entwicklung vom Beginn des problematischen Trinkens bis zur Alkoholabhängigkeit im Durchschnitt erheblich schneller als bei Männern. Alkoholabhängige Frauen sind durchschnittlich psychopathologisch weit auffälliger als alkoholabhängige Männer. Manche Beobachter leiten daraus ab, dass Frauen in Bezug auf Alkohol generell vulnerabler seien als Männer. Diese Schlussfolgerung steht allerdings in krassem Widerspruch zum Faktum, dass die Wahrscheinlichkeit, alkoholabhängig zu werden, für Männer dreimal so hoch ist wie für Frauen, obwohl in Österreich beide Geschlechter mehr oder weniger regelmäßig Alkohol konsumieren.

Methodik:

Anamnese- und Diagnosedaten von Frauen und Männern in stationärer Entzugsbehandlung wurden für primär und sekundär Alkoholabhängige getrennt ausgewertet, wobei die Zuordnung zu den Gruppen (primär bzw. sekundär alkoholabhängig) anhand einer ausführlichen leitfadengestützten Exploration erfolgte. Ausschlaggebend für die Zuordnung war, ob gravierende psychische Probleme bereits vor Beginn des exzessiven Trinkens vorhanden waren (sekundäre AlkoholikerInnen) oder nicht (primäre AlkoholikerInnen).

Ergebnisse:

Primär Alkoholabhängige fangen durchschnittlich früher an, exzessiv Alkohol zu trinken – meist als Jugendliche oder junge Erwachsene im sozialen Kontext –, die Trinkmenge bis zur Abhängigkeit wird langsamer gesteigert und das Gesamtausmaß an psychiatrischer Komorbidität ist nach Manifestation der Abhängigkeit geringer. Bei sekundär Alkoholabhängigen beginnt das problematische Trinken im Durchschnitt später – erst wenn in einer psychischen Krise Alkohol zur Selbstmedikation eingesetzt wird. Die Trinkmenge wird erheblich schneller gesteigert, da die Alkoholwirkung hier wichtig ist und der Wirkungsverlust durch rasche Konsumsteigerung ausgeglichen wird; das Gesamtausmaß der psychiatrischen Komorbidität ist nach Manifestation der Alkoholabhängigkeit deutlich größer, denn zu den alkoholbedingten Symptomen kommt die ursprüngliche Problematik dazu. Die Anzahl männlicher und weiblicher sekundärer AlkoholikerInnen ist in Österreich ähnlich groß. Primäre weibliche Alkoholabhängige sind allerdings relativ selten, während es sehr viele männliche primär Alkoholabhängige gibt. Das durchschnittliche Profil der weiblichen Alkoholabhängigen entspricht daher eher dem der sekundär Alkoholabhängigen, während das durchschnittliche Profil der männlichen Alkoholabhängigen dem der primär Alkoholabhängigen ähnelt.

Schlussfolgerung:

Der ursprünglich angesprochene Widerspruch entpuppt sich, sobald man zwischen primär und sekundär Alkoholabhängigen unterteilt und die Gruppen stratifiziert auswertet, als klassisches Simpson-Artefakt. Die Idee, dass Frauen im Umgang mit Alkohol erheblich vulnerabler sind, kann demnach mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden.