Tierarztl Prax Ausg G Grosstiere Nutztiere 2019; 47(04): 264-265
DOI: 10.1055/s-0039-1692751
Moderne Tierzucht im Spannungsfeld ökonomischer und gesellschaftlicher Ansprüche
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Übersteigt die Zucht auf Leistung die physiologischen Grenzen?

G Breves
1   Institut für Physiologie und Zellbiologie, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
21 August 2019 (online)

 

In den vergangenen 20 Jahren konnte durch Selektion auf Milchleistung die durchschnittliche Laktationsleistung deutscher Herdbuchtiere der Rasse Deutsche Holstein Schwarzbunt von 7000 auf fast 9500 kg gesteigert werden. Diese Leistungssteigerungen sind Grundlage für intensive experimentelle Studien und vor allem auch für Diskussionen in der engagierten Öffentlichkeit, inwieweit die mit hohen Leistungen verbundenen metabolischen Herausforderungen vom Tier erfüllt werden können und ob sie möglicherweise Ursache für die geringe Anzahl von im Mittel nur 2,8 Laktationen bei Herdbuchtieren der Rasse Deutsche Holstein Schwarzbunte sind. Neben der ethischen Dimension eines frühen Ausscheidens aus der produktiven Lebensphase kann damit die maximale physiologische Kapazität zur Milchleistung in der 4.–5. Laktation nicht erreicht werden.

Die negative Energiebilanz hochleistender Milchkühe im ersten Laktationsdrittel, die über das Missverhältnis zwischen maximaler Futteraufnahmekapazität und Energiebedarf für die Aufrechterhaltung der Laktation bedingt wird, ist eng mit dem Auftreten der sog. leistungsassoziierten Erkrankungen verbunden. Zu diesen Erkrankungen zählen vor allem Stoffwechselkrankheiten, Störungen im Mineralstoffhaushalt, Lahmheiten und Veränderungen von Reproduktionsmerkmalen. Bei diesen verschiedenen Symptomkomplexen liegen für die Reproduktionsmerkmale umfangreiche Daten vor. Zu den häufig dokumentierten leistungsassoziierten Befunden zählen ein verzögertes Auftreten der ersten Ovulation post partum, die Reduktion der Konzeptionsrate, die Verkürzung der Östrusdauer und das vermehrte Auftreten multipler Ovulationen. Zu den Ursachen dieser Veränderungen liegen unterschiedliche Bewertungen und Erklärungsansätze vor. Einerseits wird die Reduktion von Reproduktionsleistungen infolge defizitärer Situationen im Energiestoffwechsel als eine physiologische Regulation bewertet, in derartigen energetischen Situationen den Energieaufwand und -bedarf einer Trächtigkeit zu verhindern, andererseits werden solche Veränderungen in pathophysiologischer Hinsicht bewertet. Hinsichtlich der Ursachen gibt es verschiedene Erklärungsansätze bzw. Konzepte. So werden komplexe neuroendokrine Prozesse, die über sog. Brennstoffsensoren im Hirnstamm stimuliert werden können, als Ursachen zur Veränderung der Follikelentwicklung, der Östrusdauer und damit auch der Konzeptionsrate angesehen. Ein weiteres Konzept postuliert, dass bei maximaler Futteraufnahme auch eine maximale Durchblutung des Gastrointestinaltrakts und seiner Anhangsorgane eingestellt wird, die eine hohe metabolische Clearance-Rate der Sexualsteroide durch die Leber zur Folge hat. Die daraus resultierenden Verminderungen der Konzentrationen von Sexualsteroiden in Körperflüssigkeiten werden als Ursache der beobachteten eingeschränkten Reproduktionsleistungen angesehen.

Mastitiden und Metritiden zählen zu den wichtigsten leistungsassoziierten entzündlichen Erkrankungen, die mit Einschränkungen des Immunsystems in Verbindung gebracht werden. Daran können sowohl Veränderungen der humoralen als auch der zellulären Immunität beteiligt sein. So wurden bei Milchkühen charakteristische Veränderungen der Immunglobuline in der Peripartalzeit beschrieben, die durch signifikante Abnahmen der IgG1- und der IgM-Spiegel gekennzeichnet sind. Insbesondere für die IgG1-Spiegel im maternalen Plasma wurde nachgewiesen, dass erst etwa ab der 4. Laktationswoche das Niveau der präpartalen IgG1-Konzentrationen wieder erreicht wird. Gegenwärtig fehlt allerdings der Nachweis, dass die Zyklik der Immunglobulinspiegel in der Peripartalzeit eine höhere Empfänglichkeit für das Auftreten von Mastitis und Metritis erklärt.

In den vergangenen Jahren sind unterschiedliche Studien durchgeführt worden, die zum Ziel hatten, die Bedeutung des Energiestoffwechsels für die Anpassungsfähigkeit von Immunzellen zu charakterisieren. So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass ruhende T-Lymphozyten durch oxidative Stoffwechselprozesse gekennzeichnet sind, während proliferierende T-Lymphozyten anaerobe Stoffwechselprozesse aufweisen. Inwieweit solche Umstellungsprozesse die Anpassungsfähigkeit der zellvermittelten Immunität in Phasen einer ausgeprägten negativen Energiebilanz beeinflussen, ist noch nicht geklärt.

Für Veränderungen von Reproduktionsmerkmalen und für das vermehrte Auftreten entzündlicher Organerkrankungen liegen also mittlerweile Daten vor, die pathophysiologische Situationen in einer Tiefe beschreiben können, die in der Vergangenheit nicht möglich war. Ausgehend von diesem Stand der Forschung muss es also Ziel künftiger Forschungsvorhaben sein, diesen Kenntnisstand weiter zu vertiefen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, auf der Grundlage des genetischen Hintergrunds für Leistung und Langlebigkeit die sog. robusten Phänotypen, also die Tiere einer Population umfassend zu charakterisieren, die den metabolischen Anforderungen gerecht werden, die mit hohen Leistungen verbunden sind. Dieses Datenmaterial setzt eine vollständige phänotypische Charakterisierung aller Merkmalsbereiche voraus und erfordert intensive Kooperation zwischen genetisch und funktionell ausgerichteten Arbeitsgruppen.