Gesundheitswesen 2019; 81(08/09): 766
DOI: 10.1055/s-0039-1694671
Kongresstag 3: 18.09.2019
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Intersektionalität“ als De-Zentrierung und machtkritischer Perspektivwechsel in der Public Health-Forschung

M Mlinarić
1   Institut für Medizinische Soziologie (IMS), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale)
,
HS Ulrich
1   Institut für Medizinische Soziologie (IMS), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale)
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Publication History

Publication Date:
23 August 2019 (online)

 

Einleitung:

In der Public Health-Forschung dominiert der Fokus auf vertikale Ungleichheiten wie den sozioökonomischen Status (SES). Horizontale Ungleichheiten wie Geschlecht/Sexualität, Migrationshintergrund, Staatsbürgerschaft und disability werden nachrangig analysiert. Intersektionalität verortet sich als theoretisch inspirierter Perspektivwechsel „beyond socioeconomic position“ und ergänzt die Analyse um Machtstrukturen die systematisch hergestellte Privilegien und Benachteiligungen ermöglichen. Der vorliegende Beitrag diskutiert Potentiale und methodische Barrieren dieser Forschungsperspektive am Beispiel der Migrationsforschung zu Gesundheit.

Methode:

Als macht-kritische Methodologie hinterfragt Intersektionalität dominante, singuläre soziale Hierarchien und de-zentriert diese, denn vertikale und horizontale Kategorien bedingen sich gegenseitig und basieren auf sich verschränkten Machtverhältnissen, die über Zeit (Historizität) und Raum (Kontext) variieren. Intersektionalität fokussiert den Ausschluss marginalisierter Gruppen, deren – intra-kategorial ungleich verteilte – Disprivilegierung anhand institutioneller Machtgefüge in der (Re-)Distributionen von Gesundheit erklärt wird.

Ergebnisse:

Migrant*innen werden im Gesundheitskontext diskursiv als „Andere“ (othering) im Vergleich zur einheimischen Residenzbevölkerung konstruiert. Damit geht eine Distanzherstellung zwischen „uns“ und „ihnen“ sowie klare Grenzziehungen der Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung einher, die sich institutionell verankert (z.B. im AsylBLG). Das othering der Migrant*innen als „besonders hilfebedürftig“ oder „vulnerabel“ und damit als monolithisch-homogenes Subjekt negiert ihre unterschiedlichen sozialen Positionierungen, die sich entlang intersektionaler Kategorien aufspannen.

Diskussion:

Intersektionalität erlaubt eine machtkritische Analyse die Benachteiligung kontext-, subjekt- und zeitabhängig betrachtet. Um quantitative Forschung aus intersektionaler Perspektive umzusetzen bedarf es in Stichproben eine möglichst adäquate Verteilung von minoritären und majoritären Gruppen um etwa belastbare Interaktionsterme oder Multilevel-Modelle für intersektionale Kategorien berechnen zu können. Das „kleine N-Problem“ als auch praktische Rekrutierungs- und ressourcenabhängige Machbarkeitsgrenzen legen hier der Forschung jedoch ernst zu nehmende Hürden auf.