Suchttherapie 2019; 20(S 01)
DOI: 10.1055/s-0039-1696241
Symposien
S41 Spezielle Patientengruppen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Polytoxikomanie und Autismus-Spektrumstörung bei Jugendlichen

Kasuistik und Literaturübersicht
O Bilke-Hentsch
Modellstation SOMOSA
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Publication Date:
03 September 2019 (online)

 

Einleitung Die hohe Verfügbarkeit und der geringe Preis illegalisierter Substanzen kann auch bei Patienten mit Autismusspektrumsstörungen zu ernsthaften und spezifischen Problemen führen. An Hand eines exemplarischen Einzelfalles wird der klinische Verlauf im Lichte der Literatur dargestellt.

Kasuistik Der 16.5-jährige Klient kaukasischer Herkunft zeigte seit dem Kindergarten typische Symptome eines High-Functioning Autismus (sog. Asperger-Störung) sowie ein deutliches ADS. Er wurde heilpädagogisch, ergotherapeutisch und psychotherapeutisch betreut, sodass Beschulung bis etwa zum 13. Lebensjahr möglich war. Selbstunsicherheit, hochgradige Veränderungsscheu und Phasen verzweifelter Anspannung prägten die Klinik.

Ab dem 13. Lebensjahr begannen schulische Unregelmässigkeiten und tagelange Abwesenheiten. 1 ½ Jahre später wurde festgestellt, dass der Junge regelmässig die Dealerszene der Grossstadt besuchte, in deren Nähe er lebte. Der Klient führte systematisch Buch über die gekauften und eingenommenen Substanzen, Wirkungen (bis hin zu Atemdepression), Wirkdauer, Preisleistungsverhältnis und anderer Parameter. In 6 Monaten entwickelte sich eine Polytoxikomanie inklusive Tranquilizern, deren subjektive „Choreografie“ einer inneren Logik des Klienten folgte.

Nach einem Zusammenbruch mit Kachexie, körperlicher Schwäche, Infektionsneigung und Paranoia erfolgte die stationäre Einweisung. Die Psychopharmakologie (Buprenorphin, Polamidon, MPH, Seroquel) und qualifizierte Entzugsbehandlung war ausgesprochen komplex mit vielfältigen notwendigen Sonderregelungen, sodass eine mehrmonatige 1:1-Betreuung von Nöten wurde.

Literaturübersicht In der Medline/Scopus-Recherche ergaben sich keine systematischen Arbeiten über das gleichzeitige Auftreten von Asperger-Syndroms und Polytoxikomanie im Jugendalter. Dies verwundert, da die Verfügbarkeit von Opiaten und möglicher Vorgängersubstanzen (Cannabis, Alkohol etc.) auch für autistische Personen zutrifft.

Diskussion Diskutabel ist, ob Veränderungsangst und Bedürfnis nach Realitäts-, Impuls- und Emotionskontrolle autistische Persönlichkeiten vor Substanzkonsum „schützen“. Ist die Schwelle zur Nutzung aber einmal erreicht, könnte das repetitive und affektiv eingeschränkte Verhalten von Personen mit ASS einer Polytoxikomanie Vorschub leisten. Die DD unklarer psychotischer Störungsbilder bei Jugendlichen mit ASS sollte um die Frage des Vorliegens einer Polytoxikomanie/Opiatabhängigkeit erweitert werden, um diese prognostisch ungünstige aber behandelbare Komorbidität diagnostisch nicht zu verpassen.