Suchttherapie 2019; 20(S 01)
DOI: 10.1055/s-0039-1696299
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Agentivitätskonstruktionen von Rauchaussteiger*innen

Eine empirische Analyse aus Genderperspektive
G Klärs
Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW
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Publication Date:
03 September 2019 (online)

 

Einleitung Nur etwa der Hälfte der Raucher*innen gelingt es, im Laufe der Zeit das Rauchen aufzugeben. Es stellt sich die Frage nach hinderlichen Faktoren und möglicherweise ungenutzten Potenzialen im Rauchausstieg. Theorie und Praxis der Tabakentwöhnung sind weitgehend geschlechtsblind bzw. einseitig vergeschlechtlicht, d. h. es werden frauenspezifische Aspekte thematisiert, während die männerspezifische Perspektive unberücksichtigt bleibt. Das vorherrschende naturwissenschaftlich-biologische Verständnis von Abhängigkeit kann die Handlungsmacht der Aussteiger*innen einschränken und vernachlässigt die sozialen Aspekte von Konsum und Abhängigkeit.

Methode Es wurden qualitative, problemzentrierte Interviews mit 13 Rauchaussteiger*innen, die den Ausstieg sowohl selbstständig als auch im Rahmen eines Kurses unternommen hatten, ausgewertet. Zur Auswertung wurden das Thematische Kodieren sowie die Agencyperspektive als zentrale Analyseheuristik genutzt. Es wurden drei zentrale Vergleichsdimensionen herausgearbeitet: individualisierte Handlungsmacht, Konzeptualisierungen der Abhängigkeit und Copingstrategien. Die anschließende Typenbildung ergab fünf Typen von Rauchaussteiger*innen.

Ergebnisse Die Befunde zeigen, dass die Rauchaussteiger*innen sich nach dem Grad Handlungsmacht, die sie sich selbst und die sie der Abhängigkeit zuschreiben, unterscheiden. Die Konzeptualisierungen der Abhängigkeit reichen von „Blöde Angewohnheit“ bis „Übermacht“. Die fünf gebildeten Typen „Vermeider*innen“, „Kämpfer*innen“, „Individualist*innen“, „Zweifler*innen“ sowie „Süchtige“ zeigen, dass Agentivitätskonstruktionen kontextuell und geschlechtstypisch geprägt sind. Sie beeinflussen außerdem die Wahl der Aufhörstrategien. Die Männer des Samples konstruieren sich insgesamt handlungsmächtiger als die Frauen; Frauen äußern mehr Zweifel am Ausstiegserfolg und konstruieren sich im Extremfall als ohnmächtig gegenüber der Abhängigkeit. Für das Verständnis der Gestaltung des Aufhörprozesses bilden Agentivitätskonstruktionen einen Schlüssel.

Diskussion Die Studie gibt einen Einblick in das Ausstiegsgeschehen aus der Perspektive der Aufhörenden. Die aktive Bearbeitung der Agentivitätskonstruktionen ermöglicht Aussteiger*innen, agentivitätsbezogene dysfunktionale Kognitionen abzubauen und neue Ressourcen zu erschließen. Die Theorie und Praxis der Tabakentwöhnung sind aufgefordert, ihre Paradigmen bezogen auf Gender und ihr Verständnis von Abhängigkeit zu reflektieren und Aufhörwillige dabei zu unterstützen, limitierende Agentivitätskonstruktionen aufzulösen und ihr Spektrum von Bewältigungsstrategien über Geschlechtszuschreibungen hinaus zu erweitern.