Z Geburtshilfe Neonatol 2019; 223(S 01): E12
DOI: 10.1055/s-0039-3401097
Vorträge
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kaiserschnitterfahrung aus der Sicht von Müttern und Vätern – eine qualitative Fallstudie

I Brock
1   Nathusius-Institut für Psychologie, Bildung und Beratung, Halle a. d. S., Deutschland
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Publication Date:
27 November 2019 (online)

 

Einleitung:

Die Geburt ist ein physiologischer Prozess, den Gebärende und Kind aufeinander abgestimmt durchleben. Der Start ins Leben ist eine einmalige Erfahrung, die durch biopsychosoziale Wechselwirkungen gesteuert und nachhaltig im Körpergedächtnis und im Unbewussten verankert ist. Vorsprachlich erworbene Stressmuster und epigenetische Veränderungen wirken lebenslang. Die Behandlung von Frühtraumatisierungen steht erst am Anfang psychotherapeutischer Fachlichkeit. Schon ein normaler und natürlicher Geburtsprozess stellt eine Grenzerfahrung für Mutter und Kind – aber auch für den Vater – dar. In Deutschland verlaufen nur 7% aller Geburten ohne medizinische Interventionen. Für 32% der gegenwärtigen Neugeborenenkohorte beginnt das Leben mit einem Kaiserschnitt. Das Geburtserleben ist für Mutter, Säugling und die Familie eine wirkmächtige psychologische Grenzsituation. Prävalenzraten von 7 – 15% an postnatale Depressionen bei Müttern und Vätern werden nur selten adäquat behandelt. Regulations- und Interaktionsstörungen nehmen zu und Behandlungskonzepte erreichen nicht alle Betroffenen. Zur Prävention psychischer Erkrankungen und Langzeitfolgen für das Kind braucht es ein Verständnis der Faktoren, die sich auf die subjektive Wahrnehmung auswirken.

Material/Methode:

In einer qualitativen empirischen Fallstudie werden 6 Familien postpartal in einem offenen leitfadengestützten Interview befragt, wie sie die Geburt ihres Kindes mit Kaiserschnitt erlebt haben. Das Material wurde entsprechend Grounded Theory ausgewertet, codiert und Kategorien gebildet. Daraus entwickelt sich eine gesättigte Theorie, die Hypothesen sichert.

Ergebnisse:

Entlang der Kategorien Ohnmacht versus Selbstwirksamkeit, Vorhersehbarkeit versus plötzliche Intervention und Einfühlung des geburtshilflichen Personals versus Informations- und Empathiemangel bei Sectio ergeben sich Subcodes, die darauf hinweisen, wie die Erfahrung des Geburtserlebens sich auf die Bindung auswirkt und wie sich die Fähigkeit zur elterlichen Feinfühligkeit perinatal entwickelt. Die retrospektive Einschätzung ist zusätzlich beeinflusst von den Resilienzfaktoren, die Eltern aktivieren können, um das Erleben adäquat zu verarbeiten. Partnerschaftsqualität, Schwangerschaftsverlauf und familiäre Entwicklung nach der Geburt erweisen sich als moderierende Variablen.

Diskussion:

Da das subjektive Geburtserleben bei Kaiserschnitt von Müttern und Vätern einen erheblichen Anteil an der Entwicklung früher Störungen der Kinder hat, ist es wichtig herauszufinden, was zu positiven oder negativen Wahrnehmungen führt und welche Möglichkeiten der Qualitätssicherung innerhalb der Geburtshilfe geeignet sind psychische Folgeerkrankungen zu reduzieren. Einfühlsame und krisenbewusste Interventionen der geburtshilflich handelnden Personen und Selbstreflexion in der Betreuung von Gebärenden können Kinder vor seelischen Folgeschäden schützen.

Publikation als Originalartikel in Zeitschrift für Hebammenwissenschaft (DGHWi) geplant.