Z Sex Forsch 2015; 28(03): 295-296
DOI: 10.1055/s-0041-105677
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Dem Erfinder Volkmar Sigusch zum Geburtstag

Peer Briken
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Arne Dekker
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Oktober 2015 (online)

Da das Sexuelle in unzählige Teile zerfällt, kann es keine einheitliche Theorie der Sexualität geben. Volkmar Sigusch widmet sich als Vater einer kritischen Sexualwissenschaft den Widersprüchlichkeiten und Paradoxien des Sexuellen. Diese existierten bereits, als „unsere Sexualität als ein Abgegrenztes und Allgemeines“ (Sigusch 2007: 9) im 19. Jahrhundert erfunden wurde. Und doch werden die Widersprüche gerade heute, in einer Zeit zunehmender Dissoziation, Dispersion und Diversifikation der Sexualität (ebd.), besonders sichtbar und intensiv verhandelt.

Siguschs jüngstes theoretisches Werk „Sexualitäten“ (2013) besteht folgerichtig aus Fragmenten, die von der Erfindung Sexualität, ihrer Verwissenschaftlichung und von ihm selbst als sexualwissenschaftlichem Subjekt zusammen gehalten werden. Im Buch bewegt er sich entlang seiner über viele Jahre hinweg entwickelten zentralen Theoreme. Er entlarvt das vermeintlich Natürliche als wandelbare Installationen, beschreibt die notwendigen Verschränkungen von Theorie und Empirie, von Psyche und Soma. Zentral für seine Erzählung der Entwicklung nach der so genannten sexuellen Revolution von 1968 ist die Theorie einer „neosexuellen Revolution“ seit den 1980er-Jahren (Sigusch 2005), die von alten Zwängen befreit aber gleichzeitig neue schafft.

Siguschs Texte sind an vielen Stellen eine philosophische Arbeit entlang der Sexualität, an die sich außer Michel Foucault wohl niemand so dicht, intensiv und schöpferisch getraut hat. Ist Sigusch gar ein Sexualphilosoph – erstes Individuum einer Nicht-Disziplin, die er selbst nicht erfinden wollte? Seine Abhandlung „Die Mystifikation des Sexuellen“ (1984) jedenfalls wurde 1992 in die französische Encyclopédie philosophique universelle aufgenommen, als ein Werk des Jahrhunderts.

Sigusch ist Spross der kritischen Theorie der Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer, aber auch Vertreter einer modernen Medizin. Er hat die deutsche und europäische Sexualmedizin erfunden, weil er ab 1972 als erster eine empirische, klinische und theoretische Begründung des Faches vorlegte und seinem Kind in einer ersten Publikation einen Namen gab (Sigusch 1972). Trotz seiner kritischen Haltung auch der Medizin gegenüber ist er als praktizierender Sexualmediziner ein ausgesprochener Optimist, der immer versucht, Lösungen zu finden – nicht zu erfinden.

Sigusch ist ein wissenschaftlicher Poet oder poetischer Wissenschaftler und erfindet dabei Worte – manche meinen, es handele sich um Neologismen. Das Besondere ist, wozu diese Neologismen sinnhaft gerinnen, wenn sie wissenschaftlich und manchmal auch international werden: Cisgender und zissexuell, Hylomatie, Liquid Gender, Sexualform, neosexuelle Revolution und Neosexualitäten, Differentia sexualis specifica, orgastische Manschette und Status orgasticus.

Sigusch gehört auch zu den Erfindern dieser Zeitschrift, in deren erster Ausgabe er gleichzeitig definierte, was kritische Sexualwissenschaft ist. Er selbst ist 1940 geboren und wurde in diesem Sommer 75 Jahre. Im Namen der Herausgeberinnen und Herausgeber und der Redaktion gratulieren wir diesem Erfinder herzlich zu seinem Geburtstag und wünschen uns, dass er mit seinen Erfindungen die Zeitschrift noch über viele Jahre anregen und bereichern wird.