Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2015; 59(4): 177-179
DOI: 10.1055/s-0041-108544
Wissen
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Interview mit Dr. med. Sigrid Kruse

Leiterin des Bereichs Homöopathie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München
Sigrid Kruse
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. Dezember 2015 (online)

Das Projekt „Homöopathie in der Pädiatrie“ besteht nunmehr seit 20 Jahren. Die gelungene Integration der Homöopathie in der Universitätskinderklinik ist seit langem anerkannt. Welches sind rückblickend die wichtigsten Faktoren, die zum Erfolg des Projekts beigetragen haben?

Zentral ist der Start gewesen. Ausschlaggebend war, dass diese renommierte Universitätskinderklinik sich überhaupt auf das Experiment mit der Homöopathie eingelassen hat. Eine Anschubfinanzierung über insgesamt 6 Jahre durch die Karl und Veronica Carstens-Stiftung hat die Durchführbarkeit des Projekts ermöglicht.

Die hervorragende Supervision von Prof. Mathias Dorcsi und seiner Frau, der Kinderärztin Dr. Mira Dorcsi-Ulrich, war entscheidend für das Gelingen. Mathias Dorcsi war Begründer der Wiener Schule der Homöopathie und hatte große klinische Erfahrung, die er in Wien in seinen Lehrambulanzen gesammelt hatte, sowie umfangreiche Kenntnisse der Materia medica und des klinischen Ansatzes in der Behandlung. Dank seiner Erfahrung waren vor allem die ersten Behandlungen, die wir hier am Dr. von Haunerschen Kinderspital durchgeführt haben, erfolgreich. Ohne diese Anfangserfolge wäre das Projekt nicht so anerkannt, denn wir haben nicht leichte Befindlichkeitsstörungen behandelt, sondern gleich mit schwer erkrankten Kindern begonnen, bei denen wir konventionell unglücklich mit den Therapiemöglichkeiten waren – also ein Therapienotstand vorlag. Die Therapieerfolge bei einzelnen Kindern haben entscheidend in der Klinik zum Vertrauen in diese Methode beigetragen: Hier erleben wir, wie die Homöopathie wirkt; beispielsweise bei der postoperativen Agitation mit Aconitum C 30: das Kind schläft ein, und braucht keine zusätzliche Sedierung. Oder beim postoperativen Harnverhalt: Das Kind pieselt ohne Katheterisierung. Diese Erlebnisse überzeugen im Klinikalltag mehr als viele Studien.

Weitere Faktoren, die zum Erfolg des Projekts beigetragen haben, sind Kontinuität und Präsenz: Ich habe hier am Dr. von Haunerschen Kinderspital die Facharztausbildung in der Kinder- und Jugendmedizin durchlaufen und dabei ganz normal an allen Diensten und an der Rotation teilgenommen. Dadurch bin ich ein Teil der Klinik geworden. Es ist ganz wichtig, eine gute klinische Ausbildung zu haben, um bei jedem einzelnen Kind zu entscheiden, welche Therapie die bestmögliche für dieses Kind ist. Mit guten pädiatrischen Kenntnissen können wir in einem solchen Umfeld medizinisch arbeiten und anerkannt sein.

Wie sieht aktuell die Stellenfinanzierung aus?

Nach der Anschubfinanzierung über 6 Jahre war die Finanzierung wie folgt: Ein Jahr lang sprang eine Elterninitiative krebskranker Kinder ein, danach wurde die Finanzierung einer Arztstelle von der AOK und einige Jahre später eine zweite Stelle von der Techniker Krankenkasse übernommen – bis heute. Der Bereich Homöopathie wird demnächst um weitere komplementäre Methoden erweitert im Sinne der integrativen Pädiatrie.

Wie viele Anfragen gibt es pro Jahr im Durchschnitt?

Pro Jahr werden etwa 1000 Patienten homöopathisch behandelt, ca. 500 stationär und 500 ambulant, meist begleitend zur konventionellen Therapie. Die Zahl der Konsultationen liegt deutlich höher, da viele Patienten mehrfach behandelt werden.

Welche methodischen Ansätze werden bei der homöopathischen Behandlung in der Klinik verfolgt?

Mein wichtigster Lehrer war Mathias Dorcsi. Die Wiener Schule der Homöopathie mit ihrer klinischen Orientierung ist die wichtigste Vorgehensweise hier am Dr. von Haunerschen Kinderspital. Gerade bei schweren Pathologien hat sich diese sehr bewährt. Zentral bei akuten Krankheiten ist die Anwendung der Bewährten Indikationen und bei chronischen Krankheiten die Berücksichtigung der Konstitution und Diathese neben der Gesamtheit der Symptome des Kindes. Die zweite Vorgehensweise ist die Polaritätsanalyse, wie sie von Heiner Frei gelehrt wird, aufbauend auf Bönninghausen. Diese Methode wende ich sehr gerne in der Ambulanz an, aber auch auf den Stationen. Dabei werden Fragebögen in Ergänzung zur ausführlichen Anamnese eingesetzt. Oft ist die Arzneimittelfindung dadurch noch zuverlässiger und sicherer.

Ist eine Evaluation des Projekts geplant? Welche Studien werden durchgeführt?

Wir haben einzelne Beobachtungsstudien zu verschiedenen Themen, wie z. B. rezidivierende Harnwegsinfektionen, Enuresis, Migräne und Ticstörung durchgeführt. Unruhezustände bei stationär aufgenommenen Kindern sind ein häufiges Problem, das zu homöopathischen Konsilen führt. Niemand gibt in der Kinderheilkunde leichtfertig Beruhigungsmittel bzw. sediert gerne Kinder. Allerdings lässt sich die Unruhe meist schwer quantifizieren. Derzeit läuft eine klinische Vorstudie zum Drogenentzugssyndrom bei Neugeborenen drogenabhängiger Mütter. Die extremen Unruhephasen dieser Kinder lassen sich mithilfe des Finnegan-Scores messen und als validierter Verlaufsparameter in einer Studie verwenden. Bei dieser Indikation haben wir sehr gute Erfahrungen mit homöopathischer Therapie gesammelt. Konventionell gibt man den Kindern Tinctura opii (Opiumtinktur). Die bewährte homöopathische Arznei ist zu Beginn Opium C 200, gegebenenfalls werden anschließend Folgearzneien individuell ausgewählt. Derzeit warten wir noch auf das positive Votum der Ethikkommission, damit die Studie starten kann.

Was sagen die Patienten? Hat sich die Nachfrage im Laufe der Jahre verändert?

Wir fragen natürlich immer, ob die Patienten (bzw. die Eltern) mit einer begleitenden homöopathischen Therapie einverstanden sind, und in aller Regel rennen wir damit offene Türen ein. Oft erfährt man dann, dass das Kind ohnehin bereits homöopathisch vorbehandelt worden ist. Dass ein Elternteil die Homöopathie ablehnt, ist die Ausnahme. Zumeist sind die Eltern sehr dankbar, gerade auch auf den Intensivstationen, in der Neonatologie und in der Onkologie. Es wird sehr positiv gesehen, dass eben nicht nur die konventionelle Therapie, sondern auch begleitende, sanftere Formen der Therapie Berücksichtigung finden. Über die Jahre ist die Nachfrage nach homöopathischen Konsilen ungebrochen, und diese sind heute so selbstverständlich wie Konsile der Gastroenterologie, Allergologie oder Neurologie. Das Homöopathie-Konsil gehört einfach dazu!

Welche Erfahrungen mit der in letzter Zeit in den Medien viel beschriebenen, sogenannten „Generation Y“ gibt es in der Klinik?

Die Vereinbarkeit von Familie und Berufs ist etwas ganz Wichtiges. Wir machen hier in der Klinik die Erfahrung – in den letzten Monaten haben wir viele schwangere Kolleginnen im Haus – dass die Ärztinnen bei ihrer Rückkehr in den Klinikalltag meist auf 50 %-Stellen gehen. Dabei ist die Arbeit von zwei 50 % Arbeitenden oft viel effektiver als die von Kollegen auf einer 100 %-Stelle. Teilzeitarbeit ist somit überhaupt nicht negativ – im Gegenteil.

Wie läuft die Weiterbildung zur Homöopathie in der Klinik?

Einmal im Monat führe ich eine hausinterne Fortbildung durch, immer zu einem bestimmten klinischen Thema, z. B. Durchfall. Hierbei werden die wichtigsten Mittel vorgestellt und gezeigt, wie diese zu differenzieren sind. Jeweils ein Mittel wird mit ausführlichem Arzneimittelbild präsentiert. Außerdem werden theoretische Themen berücksichtigt, was dazu beiträgt, dass sich diese besondere Denkweise in der Klinik verbreiten kann. So kann gezeigt werden, wie differenziert und individuell wir in der Homöopathie die einzelnen Mittel auswählen.

Uns liegen aber auch die Studenten sehr am Herzen: Es gibt ein Wahlfach Homöopathie für die Vorklinik auf freiwilliger Basis. Wenn dies gewählt wird, besteht allerdings Anwesenheitspflicht, und es folgt eine Abschlussprüfung. Der Zeitaufwand beträgt eine Doppelstunde wöchentlich über ein Semester.

Auch im klinischen Teil des Medizinstudiums wird ein Wahlfach Homöopathie angeboten: Das ist dann recht intensiv und findet immer an einem Wochenende statt (Freitag bis Sonntag), ist noch stärker praktisch orientiert und endet ebenfalls mit einer Prüfung. Nach der Motivation zur Belegung des Wahlfachs befragt, sagen ca. 50 % der Studenten, sie hätten sich noch nie mit Homöopathie beschäftigt und würden eigentlich gar nichts davon halten, wollen aber das Medizinstudium nicht beenden, ohne etwas davon gehört zu haben. Wenn man die Befragung aber am Ende eines solchen Wochenendes wiederholt, kommt eigentlich durch die Bank zurück, man hätte nicht erwartet, dass die Homöopathie so komplex sei, dass man so differenziert vorgehe und welche Einzelheiten alles eine Rolle spielten – die Studenten sind somit sehr positiv beeindruckt. Auch wenn sie sich später nicht der Homöopathie zuwenden sollten, werden sie offener dieser Therapieform gegenüber sein.

Hier in der Klinik gab es seit dem Bestehen des Projekts mindestens 10 Kollegen, die die Homöopathieausbildung erfolgreich abgeschlossen haben, was auch sehr erfreulich ist.

Dem Modellprojekt wurde schon nach wenigen Jahren eine „Schrittmacherfunktion“ nachgesagt. Wie sieht das derzeitige Netzwerk an Kinderklinken aus, die Homöopathie anbieten?

Es gibt noch andere Kliniken, in denen Homöopathie eingesetzt wird. Intensiv in der Kinderklinik in Landshut: Dort wurde Frau Dr. Schönauer vor 10 Jahren eingestellt, weil sie die Homöopathieausbildung absolviert hatte. Die Behandlung erfolgt ähnlich wie am Dr. von Haunerschen Kinderspital in der Ambulanz und auf den Stationen in Form von Konsilen, die Patienten werden gemeinsam in Supervision besprochen. Dies ist eine schöne, regelmäßige Zusammenarbeit. Die Kinderklinik in Landshut ist auch eine der 3 Kliniken, die im Rahmen des neuen Projekts der Integrativen Pädiatrie, Naturheilkunde und Homöopathie eine wichtige Rolle spielen wird. Die dritte Klinik wird das Elisabeth-Krankenhaus in Essen sein.

Ich bin oft in Deutschland unterwegs und werde von vielen Kinderkliniken eingeladen, Vorträge über die Integration der Homöopathie in die Kinderklinik in München zu halten. Daraus sind verschiedene Formen der Zusammenarbeit entstanden, beispielsweise mit der Neonatologie im St.-Antonius-Hospital in Kleve. In der Kinderklinik in Hannover hat eine Kollegin die Homöopathieausbildung, auch dort wird homöopathisch behandelt, und in Passau wurde nach einem meiner Vorträge dort einer Kollegin die Homöopathieausbildung ermöglicht. So wächst die Homöopathie auch in anderen Kinderkliniken, und immer mehr Chefärzte sehen dies als Erweiterung unserer Therapiemöglichkeiten.

Die Carstens-Stiftung hat ein Projekt angekündigt, in welchem in Zusammenarbeit der Kinderkliniken in Essen, München und Landshut die Integrative Pädiatrie gefördert und erforscht werden soll. Neben der Homöopathie sind zusätzlich auch naturheilkundliche Methoden geplant. Was lässt sich am Dr. von Haunerschen Kinderspital konkret realisieren?

In diesem Projekt soll überprüft werden, welche Maßnahmen für die Kinder sinnvoll, effektiv und sicher sind. Dabei wird sich eine Subspezialität innerhalb der Pädiatrie bilden: Die Integrative Pädiatrie, Naturheilkunde und Homöopathie. Dazu zählen auch Therapieformen wie Phytotherapie, klassische Naturheilverfahren, Ernährung, Bewegung, Entspannung, Ordnungstherapie und medizinische Hypnotherapie.

Wie wollen wir anfangen? Wir fangen an, wo wir am wenigsten Belastung erwarten: Zunächst werden wir verstärkt mit Wickeln und Auflagen arbeiten, was dann auch die Eltern für zuhause lernen können, um mehr Sicherheit im Umgang mit akuten Erkrankungen zu erlangen. Mit Tees und Phytotherapie wird es schon schwieriger: Hier muss zunächst geprüft werden, was die Substanzen im kindlichen Organismus bewirken, denn Pflanzen sind nicht einfach harmlos. Außerdem wollen wir uns mit der medizinischen Hypnotherapie beschäftigen, die viele, für die Kinder unangenehme Prozeduren in der Klinik erleichtern könnte, beispielsweise das Blutabnehmen oder die Lumbalpunktion. Hierin sollen sowohl Krankenschwestern als auch Ärzte geschult werden. Auf diesem Gebiet wurde schon Vorarbeit geleistet: Leora Kuttner hat dies bereits in den 1980er-Jahren praktiziert und im Film „No Fears, No Tears“ eindrucksvoll dokumentiert.

Was sind die Herausforderungen für die Zukunft?

Ziel ist es, eine Abteilung für Integrative Pädiatrie, Naturheilkunde und Homöopathie zu gründen. Hier sollen die verschiedenen Verfahren auf den Prüfstand gestellt werden. Die Homöopathie ist ja hier schon etabliert und wird natürlich ein großer Schwerpunkt bleiben.

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch!

Das Interview führte Christian Lucae im August 2015 im Konferenzraum des Dr. von Haunerschen Kinderspitals.