Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(04): 211-216
DOI: 10.1055/s-0042-104193
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ausbildung und berufliche Qualifikation von Erwachsenen mit Myotonen Dystrophien – eine fehlgeleitete Wahrnehmung durch die Facies myopathica?

Educational and Professional Qualifications of Adults With Myotonic Dystrophies – A Misleading Perception by the Myopathic Face?
K. Stahl
,
S. Wenninger
,
A. Schüller
,
F. Montagnese
,
B. Schoser
Further Information

Publication History

Publication Date:
21 April 2016 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Myotone Dystrophien Typ 1 und 2 (DM1 / DM2) sind die häufigsten progressiven, segmental progeroiden, multisystemischen, erblichen Muskelerkrankungen im Erwachsenenalter. Die Störung der Exekutivfunktionen bei DM1-Patienten stellt einen wesentlichen Krankheitsanteil dar. Durch die pathognomonische Facies myopathica wird u. a. ein niedriges Bildungsniveau bei DM1 suggeriert. Detailliertere Untersuchungen zum Bildungsniveau dieser Patientengruppen existieren aber nicht.

Methoden: Wir nutzten einen standardisierten strukturierten Fragebogen zur Untersuchung des Bildungsniveaus bei Patienten mit molekulargenetisch gesicherter DM1 und DM2. Inhalte der Untersuchung umfassten das Bildungsniveau, den höchsten erreichten Schulabschluss und die berufliche Qualifikation. Die erhobenen Daten wurden mit vorliegenden Daten zur Bildung der Normalbevölkerung verglichen.

Ergebnisse: Aus einem Gesamtkollektiv von 546 DM Patienten nahmen 125 DM1- und 156 DM2-Patienten (51 %) an dieser Studie teil. Für den höchsten Schulabschluss bestand ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Kollektiven und der Normalbevölkerung. 50,4 % der DM1- und 48,3 % der DM2-Patienten erreichten die (Fach-)Hochschulreife, während es in der Normalbevölkerung durchschnittlich 29,6 % sind. Für die weitere berufliche Qualifizierung fanden sich nur geringe Abweichungen zwischen den Kohorten (Fach-/Hochschulabschluss: DM1: 25 %, DM2 23 %; Ausbildung/Lehre: DM1: 61 %, DM2 71 %) und der Normalbevölkerung. Es zeigte sich eine signifikant erhöhte Prävalenz von „Rechtschreibproblemen“ (p = 0,039), „Schwierigkeiten beim Kopfrechnen“ (p = 0,043), und Einstufung der Patienten „mit Lernproblemen“ (p = 0,012) bei DM1-Patienten.

Diskussion: Die allgemeine klinische Wahrnehmung der DM1-Patienten ist u. a. durch die Facies myopathica determiniert. Mit der Schwäche der Gesichtsmuskulatur und dem offenstehenden Mund wird ein kognitives Defizit assoziiert, das diese Patientengruppe stigmatisiert. Die in unserer Studie dargestellten minimalen Abweichungen zwischen den Patientenkollektiven und der Normalbevölkerung weisen darauf hin, dass das erreichbare Bildungsniveau durch die multisystemische Erkrankung nicht wesentlich eingeschränkt wird.

Beurteilung: Die im klinischen Alltag vorhandene Fehleinschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit von Erwachsenen mit Myotonen Dystrophien sollte revidiert werden.

Abstract

Background: Myotonic dystrophies types 1 and 2 (DM1 / DM2) are the most frequent inherited progressive, segmental progeroid, multisystemic neuromuscular diseases in adulthood. The executive impairment is one of the key disease features. The myopathic face triggers the general perception of DM1 patients being associated with a low educational level.

Methods: We used a standardized questionnaire to evaluate educational levels in adults with genetically confirmed DM1 and DM2 in comparison to data of the general population. Investigated topics included the level of education, e. g. the highest university degree aquired.

Results: Out of a total cohort of 546 DM patients, 125 DM1 and 156 DM2 patients (51 %) participated in this study. There was no statistically significant difference between the two collectives as far as high school levels are concerned. 50.4 % of DM1 and 48.3 % of DM2 patients obtained the higher education entrance qualification compared to 29.6 % of the normal German population. However, there were significant differences between the two collectives in “spelling problems” (DM1 cohort: p = 0.039), “difficulty in mental arithmetic” (p = 0.043), and classification of patients “with learning difficulties” (p = 0.012).

Discussion: Misled by a myopathic face, many physicians associate myotonic dystrophy with cognitive deficiency. Based on our study, the minimal deviation between DM1 and DM2 and the normal German population indicates that the multisystemic disease does not significantly influence the maximum attainable level of education in adults with DM1.

Conclusion: In summary, physicians should be aware that the general educational levels are rather normal in patients with myotonic dystrophy type 1 and rethink their perception of DM1 patients.