Der Klinikarzt 2016; 45(05): 227
DOI: 10.1055/s-0042-107180
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ein gigantischer Umbruch in unserer Gesundheitsversorgung

Matthias Leschke
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Publication Date:
02 June 2016 (online)

Wie wird unsere Gesundheitsversorgung im Jahr 2050 aussehen? Dieser Frage ging der Gesundheitsökonom Fritz Beske in einer Untersuchung bereits im Jahre 2007 nach. Doch sollen wir uns heute wirklich schon mit solchen Zukunftsfragen herumschlagen? Sollen wir zukünftige Entwicklungen voraussehen und aktiv mitgestalten? Eigentlich müssten wir unsere Vorgehensweise ständig den sich ändernden Verhältnissen anpassen. Zukunft ist eine dauerhafte Gestaltungsaufgabe, wie Beske sagt.

Unsere Gesellschaft zeigt sich erstaunlich gesundheitsbewusst. Einerseits belasten Volkskrankheiten wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Rückenbeschwerden und Atemwegserkrankungen unser Gesundheitswesen so stark, dass es unter dieser finanziellen Bürde fast ächzt; andererseits laufen überall Leute mit Fitnessarmbändern und Uhren herum, die mit hochkomplexen Programmen zur Gewichtskontrolle und Erfassung der körperlichen Aktivität und Schlafqualität ausgestattet sind. Die Zahl der Gesundheits-Apps nimmt immer mehr zu. Das Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweig zählt inzwischen schon über 100 000 solcher Mini-Gesundheitsprogramme für Smartphones und Tablets. Ist dieser Wildwuchs an messbarer Gesundheit nur ein kurzlebiger Modetrend, der sich schon bald wieder verflüchtigen wird? Ich fürchte: nein. Dieser Tsunami an Fitness-Trackern wird auch den Alltag von uns Ärzten nachhaltig verändern. Nicht umsonst hat die Studie „Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps“ (CHARISMHA) jetzt die Rahmenbedingungen für den Einsatz dieser Apps aus den Blickwinkeln von Medizin, Informatik, Ethik, Recht, Ökonomie und Politik aufzuarbeiten versucht. Freilich ist dies nur eine Momentaufnahme, die morgen schon wieder hinfällig sein wird.

In „Medical Tribune“, „Ärztezeitung“ und ähnlichen populärfachlichen Medien denkt man jetzt schon ernsthaft darüber nach, wann der Einfluss der Ärzte auf diese Entwicklung schwinden wird. Fitness-Tracker belächelt man inzwischen kaum noch. Über 30 % aller Deutschen ab 14 Jahren zeichnen damit ihre Gesundheitswerte auf. Und schon steht die nächste Generation der winzigen Gesundheitsassistenten davor, den Markt zu erobern: die Biosensoren. Sie ersetzen teure Labore und messen organische und anorganische Moleküle. Ein Biosensor für Diabetiker misst beispielsweise den Zuckergehalt im Schweiß des Trägers. Biosensoren erobern aber auch die Allergie-Diagnostik. Ein Sensor der Firma Profusa, der unter die Haut gespritzt wird, soll die chemischen Abläufe im Körper analysieren und an das Smartphone übermitteln. Und der Patient liefert dem Arzt seine Vitaldaten dann übers Netz.

Das hört sich wie Science-Fiction an. Doch wer darüber lächelt und das alles nicht so ernst nimmt, vergisst, dass Technologien immer dann den größten Einfluss auf uns haben, wenn sie sich in unseren Alltag integrieren. Denn dann werden sie selbstverständlich. Smartphone, Tablet, Armbandcomputer, Datenbrillen – das ist heute Alltag, und dieser beeinflusst uns, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. mHealth, die mobile Gesundheit – das ist längst kein Wellness-Quatsch mehr, sondern ein anspruchsvolles Programm für Diagnostik und Therapie. Da wird jetzt schon bei den Kostenträgern über Vergütungsmöglichkeiten nachgedacht! Vielleicht auch nur, weil sich die Krankenkassen erhoffen, mit den Fitnessdaten ihrer Versicherten deren Gesundheitsrisiken besser einschätzen und somit möglicherweise Beiträge risikoadjustierter gestalten zu können.

Das ist doch Zukunftsmusik für die Gesundheitspolitik! Schrittmacher- und ICD-Träger können heute ihre aktuellen Daten in Echtzeit an die medizinischen Zentren übertragen lassen, von denen sie überwacht werden. Auch COPD-Patienten werden im Rahmen einer Pilotstudie der Techniker Krankenkasse mit dem Robert-Bosch-Krankenhaus heute schon telemetrisch begleitet. Das soll Hospitalisierungen vermindern und die Lebensqualität heben. Die Atemtherapiegeräte von Schlafapnoikern senden den nächtlichen Therapieverlauf an den Server eines weltweit agierenden Homecare-Versorgers, der dann entscheidet, welcher Patient Nachhilfeunterricht in Sachen Compliance braucht.

Ich fürchte, die technische Entwicklung überrollt uns gnadenlos. Wir werden immer mehr zu Getriebenen. Wer verantwortet die Therapiebegleitung von Millionen von Kranken? Wie wird dieser Aufwand finanziert? Oder werden Diagnostik und Therapieempfehlung einfach von einem raffinierten Algorithmus erledigt? Wer sorgt dafür, dass diese sensiblen Daten nicht in die Hände von Geschäftemachern geraten? Und schließlich: Wo bleibt da künftig die Nachfrage nach ärztlicher Kompetenz? Sind wir Ärzte künftig nur noch Kontrolleure elektronischer Diagnostik? Wie muss sich die medizinische Ausbildung verändern, um mit dieser völlig andersgearteten Medizin mithalten zu können? Und wer gibt den Ton an: die Industrie, wir Ärzte?

Wir haben heute noch keine Lösungen, keine Antworten auf diese Fragen. Alles befindet sich im Wandel. Lassen wir den Karren einfach laufen? Oder bestimmen wir seine Richtung mit? Zumindest die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin nimmt sich der digitalen Medizin, „eHealth“, an. „Wenn wir uns jetzt nicht mit der digitalen Medizin konstruktiv auseinandersetzen, werden wir abgehängt“, meint Prof. Dr. Gerd Hasenfuß, Präsident des 122. Internistenkongresses. Hoffentlich sind wir noch nicht abgehängt. Können wir diese neue Welt noch maßgeblich mitgestalten, sodass auch weiterhin nichts ohne uns Ärzte geht?