Der Klinikarzt 2016; 45(06): 271
DOI: 10.1055/s-0042-108884
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Die Liebe zu den Menschen schließt die eigene Person nicht aus.“

(Mo Di, chinesischer Philosoph, ~ 480 v.Chr. bis ~ 390 v.Chr.)
Günther J. Wiedemann
Ravensburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. Juni 2016 (online)

Kein Zweifel: Sie und ich sind die beste Wahl, die ein Patient für seine Behandlung treffen kann. Wir entsprechen dem ärztlichen Ideal, das Patienten in Befragungen in etwa so definieren: empathisch, vertrauenswürdig, zugewandt, ehrlich, respektvoll, fachlich kompetent, und wir leisten gründliche Arbeit. Wir nehmen uns Zeit, zuzuhören und zu erklären. Wir setzen uns für unsere Patienten ein, und dafür erwarten wir Treue.

Wenn es um unsere fachlichen und charakterlichen Kompetenzen als Arzt geht, steckt in jedem von uns ein Narziss.

In einer Version des griechischen Narziss-Mythos betrachtet dieser selbstverliebt sein Spiegelbild in einem See. Da fällt ein Blatt ins Wasser, und die entstehenden Wellen verzerren das Bild. Schockiert ob seiner vermeintlichen Hässlichkeit, stirbt Narziss. Unsere Schockwelle ist der Patient, der uns den Rücken kehrt. Dass ein Patient, der mich nicht kennt, gar nicht erst kommt, ist ja nachvollziehbar. Doch dass einer nicht mehr wiederkommt, nachdem er mich kennengelernt hat… Eigentlich müssten wir das wegstecken können. Doch die narzisstische Kränkung sitzt tief. Was habe ich falsch gemacht? Oder ist dieser Patient schlicht undankbar/geistig zu beschränkt/zu festgelegt auf seine eigene Interpretation von Krankheit? Stimmte einfach die Chemie nicht? Haben ein Kollege oder andere Patienten vielleicht schlecht über mich geredet?

Das vermeintlich unerklärliche Abwandern von Patienten und die daraus entstehenden Selbstzweifel ihrer Ärzte sind sicher so alt wie die Medizin. Im Jahr 1930 publizierte der südafrikanische Arzt C.P. Theron den Aufsatz „Why do my patients leave me?“. Er schreibt den ärztlichen Kollegen eine tragende Rolle bei der Verunsicherung von Patienten zu. „The other man“ verstehe es meisterhaft, den Eindruck fachlicher Überlegenheit zu erwecken, um dann subtil anzudeuten, er hätte anstelle seines Kollegen ganz anders gehandelt. Dann gebe es auch „the younger man“, der das aktuellste Wissen, die neuesten Methoden für sich reklamiere und einen (nicht selten aus mangelnder Erfahrung resultierenden) Enthusiasmus und Optimismus versprühe. Natürlich passiert es auch nicht selten, dass ein Patient eine Urlaubsvertretung aufsucht und „hängen bleibt“. Und manchmal hat man einfach Pech, Hypothesen gehen nicht auf, schicksalhafte Komplikationen treten ein und ein Kollege hat einfach mehr Glück. Nicht auszuschließen ist leider auch, dass Kollegen tatsächlich besser sind – und sei es nur für diesen spezifischen Patienten.

Besonders schmerzlich ist es natürlich, wenn langjährige Patienten plötzlich wegbleiben. Aber, mal ehrlich: Haben nicht auch wir Ärzte manche chronisch Kranken gründlich satt? Das beruht möglicherweise auf Gegenseitigkeit. Ein paradoxes Phänomen ist dagegen das Fernbleiben von Patienten, die uns wegen einer außerordentlich erfolgreichen Behandlung eigentlich zu größtem Dank verpflichtet wären. Der Südafrikaner Theron hat lange über dieses Phänomen nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass Menschen generell nicht gerne in jemandes Schuld stünden. Das führe zu einem Gefühl der Nicht-Gleichwertigkeit, was eine Arzt-Patient-Beziehung auf Augenhöhe unmöglich mache.

Was also tun, wenn ein Patient geht? Kritische Selbstreflexion schadet sicher nie. Doch bei Kollegen, Angehörigen oder gar dem Patienten selber nachforschen, was die Ursache gewesen sein könnte? Wenig wahrscheinlich, dass man hier ehrliche und nachvollziehbare Erklärungen bekommen wird. In Arztbewertungsforen im Internet suchen, ob man eine schlechte Bewertung mit entsprechender Begründung bekommen hat? Zum einen sind in den einschlägigen deutschen Portalen (zu finden beispielsweise unter www.aerztebewertungen.com) die wenigsten Ärzte bisher jemals bewertet worden. Und außerdem besteht bei solchen Bewertungsportalen, entgegen unter Ärzten verbreiteten Befürchtungen, eher ein positiver Bias bei der qualitativen Bewertung von Ärzten – einer amerikanischen Auswertung zufolge empfehlen zwei Drittel der User ihren Arzt wärmstens weiter.

Es gibt also nicht wirklich zufriedenstellende Möglichkeiten, der Ursache der Ablehnung auf den Grund zu gehen. Ein Gefühl der Kränkung und Missachtung bleibt. Wenn aber bei selbstkritischer Nachschau keine gravierenden fachlichen Fehler und Versäumnisse oder eigenes Fehlverhalten offenkundig werden, halte ich es mit William Shakespeare: „Was nicht zu retten, lass dem falschen Glück/Und gib Geduld für Kränkung ihm zurück. Zum Raube lächeln, heißt den Dieb bestehlen/Doch selbst beraubst du dich durch nutzlos Quälen.“